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Nepal: Nichts ist mehr so, wie es einmal war

Über meinem Schreibtisch bei MISEREOR hängt ein Bild der Himalayakette. Meine Kollegin hat mir zur Erinnerung an unsere Südasien-Projektreise im vergangenen November einen wundervoll gestalteten Kalender mit Bildern ihres Vorbeiflugs an den Bergriesen Mount Everest, Annapurna, Manaslu und Ama Dablam geschenkt. Manchmal wollte ich den Kalender in den letzten Tagen abhängen. Brennend wurde dieser Gedanke, als vorgestern die Nachricht von dem neuen Beben kam.

Dreimal habe ich in der Vergangenheit das Land besucht und als Fachreferent für Mikrofinanz- und Berufsbildung unser Kooperationsprojekt „Mikroversicherung“ kennen lernen dürfen. Die Frauen im Dhadhing-Tal, westlich von Kathmandu, waren für mich nach vielen Jahren der Arbeit in der Lateinamerikabteilung die ersten Armen, die ich in Asien in ihrem unmittelbaren Umfeld kennengelernt habe. Stolze Frauen leben dort in einem dichtbesiedelten, engen Tal. Die Armut ist viel größer als in vergleichbaren Situationen Lateinamerikas, die Kultur mir so viel fremder und unverständlicher, die Veränderung so viel schwieriger und komplizierter als in den vergleichsweise reichen Ländern Lateinamerikas. Ungewohnt auch das Angewiesensein auf einen Englisch-Nepali-Dolmetscher. Mit den BrasilianerInnen und den anderen „Latinas“ konnte ich immer in ihrer Muttersprache sprechen.

Nichts mehr an den freundlichen, von der Sonne verwöhnten Abhängen des Dhading-Tales ist heute so, wie es noch vor wenigen Monaten war. In Asien habe ich die eher spleenige Angewohnheit entwickelt, die GPS-Koordinaten bestimmter Orte auf meinen MISEREOR-Dienstreisen zu nehmen. Täte ich dies heute an der gleichen Stelle dort westlich von Kathmandu, stände ich meinem Empfinden nach nach diesem schweren Erdbeben 3 Meter weiter nördlich, 3 Meter tiefer im Himalaya. Die Äcker sind sehr, sehr klein. Der Leiter von MISEREORs Parterorganisation Deprosc erklärte uns bei unserem letzten Besuch, dass die in den fünfziger Jahren von der deutschen Entwicklungshilfezusammenarbeit ins Tal hineingetragene Diversifizierung des Gemüseanbaus entscheidend zur Verbesserung der Lebenslage, vor allem der Kinderernährung beigetragen hätte. Was bedeutet es, wenn so ein klitzekleines Feld am steilen Hang seine relative Lage zum Sonneneinfall in einem so engen Tal verändert? Werden die Bauernfamilien wieder genauso anpflanzen und ernten können, wie sie es durch die Jahre getan haben?

Und in Kathmandu?

Unser Partner Sanu Lal Maharjan berichtet aus Kathmandu, dass zahlreiche Häuser eingestürzt sind und selbst die Bewohner intakter Häuser im Freien kampieren, weil regelmäßig Nachbeben die Menschen verschrecken. Unsere ProjektpartnerInnen bringen Geld zu den Orten, an denen es noch Lebensmittelmärkte gibt und Lebensmittel zu den Orten, an denen es nichts mehr gibt. Die Sicherung noch vorhandener Häuser und der Wiederaufbau zerstörter Gebäude sind die nächsten Schritte.

Und was bedeutet dieses Beben für das hoffnungsvolle Mikroversicherungssystem? Es war eines der Projekte, in welchem der Gedanke „Hilfe zur Selbsthilfe“, der MISEREOR immanent ist, wie im Bilderbuch durchexerziert wurde. Die armen Frauen leisteten handfeste Geldbeiträge aus der eigenen Tasche in eine solidarische Krankenversicherungskasse. Jetzt ist ihr ganzes Lebensunterhaltssystem, das, was wir bei MISEREOR manchmal hilflos mit dem englische Begriff „livelihood“ bezeichnen, aus den Angeln gehoben.

Dass die Menschen im Dhading-Tal sich wieder aufrichten, scheint mir weniger das Problem zu sein. An der Spitze der Gruppen dort stand eine kämpferische junge Frau, abgemagert und vom Leben überhaupt nicht verwöhnt, aber engagiert im Kampf für eine bessere Gesundheitsversorgung. Zweimal hat sie mir „den Marsch geblasen“. Einmal nutzten alle meine Proteste nichts und ich bekam den dicken Fleck der Hindus zur Begrüßung auf die Stirn, dieses Gemisch aus Blüten, Ölen und Wasser, welches bis heute aus meiner Dienstreisejacke nicht herausgewaschen ist. Das andere Mal beim Besuch mit MISEREOR-UnterstützerInnen im vergangenen Jahr: Sie ließ keinen Zweifel an ihrer Enttäuschung über eine Verzögerung in der weiteren Förderung und hinterließ einen bleibenden Eindruck bei den Mitreisenden. Wenn es von ihr und ihren Mitstreiterinnen abhängt, dann werden sich die Selbsthilfekräfte erholen, so wie die Einführung neuer Anbautechniken zu Zeiten des Bundespräsidenten Lübke im Dhading-Tal nachhaltig erfolgreich war.

Hoffentlich sind wir in der Lage, ihr dann die nötige Unterstützung zukommen zu lassen, wenn die Lebensmittelhilfe nicht mehr nötig ist und die internationalen Nothelfer abgezogen sind. Die Menschen in Nepal werden unsere wohl dosierte und richtig eingesetzte Unterstützung noch lange brauchen.

Über den Autor: Anselm Meyer-Antz arbeitet als Länderreferent bei MISEREOR und besuchte im Rahmen einer Spenderreise im vergangenen Jahr Nepal.

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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