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Stevia – den Beitrag der Guarani endlich anerkennen

In den Industrie- und Schwellenländern ist der Zuckerverbrauch unersättlich. Fettleibigkeit und Diabetes greifen um sich. Zucker steckt in vielen Lebensmitteln. Die Stevia-Pflanze – ein gesundes Süßungsmittel – entwickelt sich zum Erfolgsrezept, um Zucker zu ersetzen. Über Jahrtausende wurde die Pflanze von indigenen Guaraní Gruppen im Grenzland zwischen Paraguay und Brasilien kultiviert. Große Konzerne machen mittlerweile Milliardengeschäfte mit Stevia und bauen Moleküle der Pflanze sogar synthetisch nach. Der spezialisierte Agrarökonom Dr. Miguel Lovera aus Paraguay spricht von Biopiraterie und fordert Kompensationen für die Indigenen auf der Basis der bestehenden internationalen UN-Konventionen.

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Dr. Miguel Lovera ist Agrarökonom aus Paraguay. Er war ehemals Chefberater für seine Regierung bei internationalen Klimaverhandlungen sowie Präsident der staatlichen Saatgutbehörde unter der Regierung Lugo und gleichzeitig Aktivist für die Indigenenrechte und Biodiversivität in der NGO Sobrevivencia – Amigos de la Tierra.

Was ist Stevia für eine Pflanze und warum ist sie auf einmal weltweit so gefragt?

Dr. Miguel Lovera: Stevia ist eine Pflanze, aus der ein natürlicher kalorienfreier Süßstoff gewonnen werden kann – die Steviolglykoside. Sie haben keine negativen gesundheitlichen Folgen. Außerdem ist Stevia eine wirkungsvolle Heilpflanze, die von den Guaraní-Gruppen traditionell kultiviert wurde. Die Indigenen in Brasilien und Paraguay setzen sie gegen alle Formen der Diabetes ein. Ich kenne Patienten, die sich von traditionellen Heilern auch mit Stevia behandeln ließen, was sehr erfolgreich war.

Gleichzeitig leben wir in einer Welt, die vom Zucker abhängig geworden ist, in der Überfluss an Zucker herrscht. In vielen Fertigprodukten ist Zucker drin. Das hat sehr ernste Folgen für die öffentliche Gesundheit beispielsweise durch Fettleibigkeit oder Diabetes. Darum sucht die Industrie nach neuen Stoffen, die sich nicht so negativ auswirken.

Wer macht Geschäfte mit dem Süßungsmittel durch Stevia?

Dr. Miguel Lovera: Konzerne wie Coca Cola, Cargill, PepsiCo und einige andere, die nicht so groß sind. Sie stellen mit Hilfe von Stevia auch neue Produkte her. Das Schweizer Unternehmen Evolva imitiert die Funktionalität der Pflanze und ihre Beschaffenheit und stellt den Süßstoff industriell her. Das machen sie über einen biosynthetischen Prozess, indem sie Hefestämme kultivieren und darin die DNA-Konstruktion einer Stevia-Pflanze einsetzen: das ist die Reproduktion neuer „Lebewesen“. Das hätten sie nie machen können, wenn nicht das gesammelte Wissen der Guaraní über Stevia verwendet worden wäre. Wenn die Indigenen jetzt nicht am Gewinn mit Stevia beteiligt werden, ja dann werden ihre verbrieften Rechte verletzt.

Es gibt jede Menge Patentanmeldungen und bereits Versuche mit genmanipulierter Stevia. Es werden dann Stränge der Stevia-DNA so kombiniert, dass „Neues“ entsteht. Aus meiner Sicht stellt die Natur jedoch alles zur Verfügung, was die Wissenschaft durch Genmanipulation, über die grüne Revolution oder biologische Synthetisierung zu erreichen versucht hat. Von letzterem profitieren die großen Player. Das Problem ist, dass man so die natürliche Artenvielfalt nicht kontrollieren oder steuern kann. Das machen die Menschen, wie die Guaraní und viele Völker rund um den Erdball, die noch im traditionellen Stil leben.

Wie wird Stevia genutzt und wo wird der Süßstoff produziert?

Dr. Miguel Lovera:„Coca Cola Life“ wirbt mit einem hohen Prozentsatz an Stevia-Süßstoff und „seiner Natürlichkeit“. Stevia findet man auch in Schokolade oder Feingebäck. Ein größeres Angebot gibt es in Japan mit Stevia in Süßigkeiten oder Marmeladen. Für die industrielle Nutzung gibt es Stevia-Anbau hauptsächlich in China, Malaysia, Indonesien, Vietnam, Mexiko und Kolumbien und ein bisschen in Brasilien und Argentinien. In Paraguay hat die Regierung vor einigen Jahren den großflächigen Anbau versucht zu fördern, aber er ist klein geblieben, die Konkurrenz mit China ist zu groß. Die traditionelle Anbauweise von Stevia ist kleinteilig, die Bauern haben nur verstreut einzelne Pflanzen.

Wie wird mit Stevia geworben?

Dr. Miguel Lovera: Die Konzerne werben damit, dass ihre Produkte ganz natürlich sind, obwohl es sich häufig um synthetisierte Produkte handelt oder um irgendwelche Mischungen mit Zucker und nicht um die Süße direkt von den Pflanzenblättern. Die Slogans über die Natürlichkeit auch der Indigenen sind meiner Meinung nach sehr irreführend. Auch die Guanari sind mit Armut und Perspektivlosigkeit konfrontiert und können ihrer traditionellen Lebensweise gar nicht mehr nachgehen.

Warum sollen die „Bewahrer der Stevia“ – die Guaraní-Gruppen – etwas zugesprochen bekommen?

Dr. Miguel Lovera: Wir wollen, dass das traditionelle Wissen der Guarani über die Pflanze anerkannt wird, denn ohne das wäre eine weitere Verbreitung von Stevia nicht möglich gewesen. Dann wäre Stevia verschwunden oder verborgen geblieben. Die Gebiete, in denen die Pflanze wächst, haben sich sehr verändert. In ihnen werden mittlerweile großflächig Sojabohnen und Futterpflanzen für die Tierhaltung angebaut. Dazu kamen die Rohrzuckerplantagen, die die Artenvielfalt immens eingeschränkt haben – auch die Stevia-Pflanze. Doch die Guaraní glauben daran, den Lebensraum in seiner Ursprünglichkeit bewahren zu müssen und haben diese Pflanze erhalten und beschützt, wovon in Zukunft die Konsumenten in vielen Regionen der Welt etwas haben.

Gibt es eine internationale Vereinbarung, auf die Sie sich stützen?

Dr. Miguel Lovera: Wir Autoren der Studie „Der bittersüße Geschmack von Stevia“ gehen davon aus, dass genau diese Rechte in der internationalen Biodiversivitätskonvention aufgeführt werden. Es geht dabei um diejenigen Akteure, die das traditionelle Wissen über eine Pflanze entwickelt und bewahrt und die Pflanze sozusagen „bewacht“ haben. Angesichts der gewinnorientierten Verwertung von Stevia müssen genau diese Gruppen beteiligt werden.

Warum engagieren Sie sich so für die Guaraní-Gruppen?

Dr. Miguel Lovera: Das meiste Land ist den Indigenen genommen worden – durch den Anbau von Soja, Rohrzucker oder Futterpflanzen. Natürlich brauchen sie Hilfe, aber sie müssen selbst entscheiden, welche Form der Hilfe. Das ist ihr Selbstbestimmungsrecht. Was wir leisten können ist mehr eine Interpretationshilfe: die internationalen rechtlichen Rahmenbedingungen einzuschätzen, welche Zugeständnisse die internationale Gemeinschaft macht und was noch in Rechnung gesetzt werden muss.

Doch bevor es zu spät ist, setzen wir uns für ihre Rechte ein, die durch die internationalen Vereinbarungen verbrieft sind. Das schließt ein, dass sie bestimmen, wie Stevia genutzt wird und wie mit dem Wissen über die Pflanze umgegangen wird. Es waren sie und die vielen Generationen vor ihnen bis zu ihren Urahnen, die dieses Wissen über Jahrtausende entwickelt haben. Wir wollen auf gar keinen Fall, dass dieses Wissen monopolisiert wird von der Industrie, die damit Geld machen und die Probleme der westlichen Gesellschaften lösen möchte ohne Teilhabe und Mitsprache der Guaraní-Gruppen.

Was erwarten Sie von der Politik?

Dr. Miguel Lovera: Das Recht auf Kompensationsleistungen für die Guaraní – das muss anerkannt werden und ist absolut notwendig. Es geht aber nicht nur um Geld. Die Menschheit soll sehen, welchen phantastischen Beitrag die Indigenen geleistet haben und in welch großer Not sie gleichzeitig leben: die Guarani brauchen endlich den Zugang zumindest zu einem Teil ihre angestammten Landes, von dem sie vertrieben wurden – und bessere Lebensbedingungen. Es wäre sehr unfair, wenn sie einfach in dieser Situation alleingelassen werden und nur die anderen profitieren.


Studie

Unter dem Titel „Der bittersüße Geschmack von Stevia“ hat MISEREOR zusammen mit der Universität Hohenheim, der schweizerischen NGO „Erklärung von Bern“ und anderen Organisationen eine Studie herausgegeben. >>

Dr. Miguel Lovera ist einer der Autoren. Der Agrarwissenschaftler aus Paraguay war Berater für seine Regierung bei internationalen Klimaverhandlungen und Präsident der staatlichen Saatgutbehörde unter der Regierung Lugo. Heute erbeitet er für die NGO Sobrevivencia – Amigos de la Tierra zu Indigenenrechten und Biodiversität.

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Eva Wagner arbeitete bis 2016 im Berliner Büro von MISEREOR.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Avatar-Foto

    Ich finde, es sollte gleiches Recht für alle gelten – kein Patent für Coca Cola und kein Geld für die Guaraní. Pflanzen und Tiere sollten für jeden frei nutzbar sein, auch wenn einem ein indigenes Volk sympatischer ist als ein profitorientierter Großkonzern. Die Guaraní können gern Stevia vermarkten – würde ich kaufen. 🙂

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