Projekte zur Unterstützung von gendersensibler Männerarbeit werden auch von Misereor in vielen Staaten des Globalen Südens gefördert. Doch was versteht man eigentlich darunter? Klar ist, dass es um deutlich mehr geht als die Prävention von Gewalt. Im Interview äußern sich zu diesem Thema Barbara Schirmel, Misereor-Referentin für Gender und Diversity bei Misereor, und Markus Büker, Leiter der Abteilung Lateinamerika und Karibik beim katholischen Werk für Entwicklungszusammenarbeit.
Veröffentlicht im Rahmen der Fastenaktion 2023 „Frau. Macht. Veränderung.“
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Ist gendersensible Männerarbeit eine neuere Idee? Und wie kann es mit den damit verbundenen Aktivitäten und Maßnahmen gelingen, dass Männer ihr Denken über Geschlechtergerechtigkeit und ihr Verhalten gegenüber Frauen verändern?
Markus Büker: Gendersensible Männerarbeit ist nichts Neues, es gibt sie schon seit den 1970er Jahren. Mit den emanzipatorischen Bewegungen bei den Frauen kam es damals auch zu Männer-Aufbrüchen. Gendersensible Männerarbeit ist zunächst einmal zu denken als die Antwort der Männer auf die Notwendigkeit, etwas zu verändern in ihren Beziehungen zu Frauen, zu anderen Männern und vor allem auch zu sich selbst. Männerarbeit sollte einen profeministischen Ansatz haben. Das heißt: Männerarbeit ist darauf ausgerichtet, zu schauen wie die eigene Rolle geschlechtergerecht ausgefüllt werden kann, insbesondere im Hinblick auf Rechte und Selbstbestimmung von Frauen.
Aktuell geht es sehr stark darum, die Rechte von Männern weiterzuentwickeln, etwa was ihre Rechte als Väter betrifft. Ich selbst kenne Männerarbeit aus meiner beruflichen Station in der Schweiz. Dort war und ist damit verbunden, dass Männer sich mit ihrer eigenen gesellschaftlichen Rolle, ihrer eigenen Identität, Gefühlswelt und Körperlichkeit auseinandersetzen. Es ging etwa um eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper als vernachlässigtes Objekt des Mannseins, um Sexualität, Gesundheit, Krankheit, auch um Männer und ihr Verhalten in der Öffentlichkeit.
Es geht also nicht zuletzt um die Möglichkeiten von Männern, eine andere neue Rolle auch ausfüllen zu können, etwa über mehr Familienarbeit, richtig?
Büker: Ja, genau. Wichtig sind im Übrigen auch viele Rechte, die ich zum Beispiel als Vater haben sollte, etwa das Recht auf Zugang zum eigenen Kind nach einer Ehescheidung – ein Feld, bei dem Männer mitunter in der zweiten Reihe stehen und benachteiligt werden. Auch über Väterzeiten im Rahmen von Berufstätigkeit, über Weiterbildung in diesem Bereich muss viel mehr geredet werden.
Du hast auch in Kolumbien mit Männern zusammengearbeitet. Was geschah dabei?
Büker: In Kolumbien ist aus einem Prozess auf der Ebene von Basisgemeinden eine Männergruppe entstanden. Die Idee war aufgekommen, nachdem eine feministische Theologin Folgendes gesagt hatte: „Ich glaube Euch erst, dass Ihr Euer Mannsein geändert habt, wenn ich dazu Eure Frauen befragt habe.“ Mit ein paar anderen haben wir daraufhin die Bildung einer klassischen Männergruppe organisiert. Teilnehmende waren überwiegend Männer, die sich schon länger kannten, Vertrauen zueinander hatten, mit wenig Schulbildung, aber sich auf ein Abenteuer einließen. Wir haben über den eigenen Körper geredet, das war ein wirklich starker, vertraulicher Austausch. Sehr ungewohnt, was wir miteinander an Erfahrungen geteilt haben.
Wir waren gleichzeitig vernetzt mit der Männerarbeit in Bogota. Hintergrund war unter anderem deren Arbeit an Universitäten einerseits, mit Polizei und Militär andererseits. Die war und ist mit Männern konfrontiert, die andere Männer oder Frauen getötet haben oder gegenüber Frauen gewalttätig worden sind. Hierbei ging es um präventive Arbeit von Männer-Trainern zur Vorbereitung auf schwierige bzw. gewaltvolle Situationen im Dienst und als Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle. Wir haben zu acht die Teilnahme an einer halbjährigen Weiterbildung organisiert und eine gemeinsame Diplomarbeit zur Frage geschrieben: Warum weinen bei uns Männer nur in den Kneipen? Mitglieder der Männergruppe haben dazu Interviews geführt. Ergebnis: Männer weinen in Kneipen, weil dort der Alkoholkonsum Emotionen zulässt.
Wir haben Ausflüge gemacht. Wir haben in Körpertrainings uns selbst und die anderen Gruppenmitglieder besser kennengelernt. Wir haben auf den Straßen demonstriert, an der Seite von Frauen, für die Überwindung von Gewalt im Alltag und von Gewalt durch die bewaffneten Akteure des Bürgerkriegs. Das war eine sehr tiefgehende Form der Persönlichkeitsbildung. Politisch haben wir ein Netzwerk gegründet, es entstand unter anderem ein Plakat zur Gleichheit der Geschlechter. Dann ging es ganz stark um Vorurteile gegenüber Schwulen und Trans-Menschen. Die Begegnung mit Schwulen und Trans-Menschen haben diese Haltung und dieses Denken verändert. Heute ist das Quartierzentrum der Basisgemeinden ein Ort, wo sich Schwulen- und Lesbengruppen treffen. Das sind Erfahrungen, wie es sie auch an vielen anderen Orten gibt, nicht nur in Kolumbien. Überall, wo solche Prozesse ablaufen, kann eine solche Bewusstseinsveränderung stattfinden.
Barbara, welche Erfahrungen hast Du in der Projektarbeit gemacht?
Barbara Schirmel: Es hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Projektarbeit nur mit Frauen auch Schaden anrichten kann. Etwa wenn es um einkommensschaffende Maßnahmen nur für Frauen geht. Wenn Frauen Zugang zu wirtschaftlichen Mitteln haben und damit Unabhängigkeit erreichen können, führt das innerhalb einer Beziehung häufig zu Konflikten. Gerade wenn die Frau bisher eine sehr untergeordnete Rolle hatte und nun vielleicht mehr verdient als der Mann. Also wenn der Mann der typischen männlichen Rolle, die ihm von der Gesellschaft zugeschrieben wird, als Ernährer und Oberhaupt der Familie nicht mehr gerecht wird. Dann kann es sehr schnell zu familiärer Gewalt kommen. Dem muss mit systemischen Herangehensweisen begegnet werden, da ja auch Familie ein System ist. Wenn ich an einer Stelle etwas verändere, kann das negative Auswirkungen für alle haben. Deshalb ist die Arbeit mit ganzen Familien oder auch Paaren besonders wichtig.
Ich erinnere mich an eine Familie in Peru, wo die Projektarbeit die Situation der gesamten Familie einbezog. Es wurden agroforstliche Maßnahmen zur Verbesserung der eigenen Landwirtschaft ergriffen, und auch der Wohnraum wurde verbessert. Sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen wird erleichtert, wenn es keine getrennten Schlafräume gibt. Es war schön zu sehen, dass sich nicht nur die wirtschaftliche Lage der Familie verbessert hatte. Das gesamte Verhalten hatte sich verändert. Man spürte den respektvollen Umgang zwischen dem Ehepaar, oder der Eltern mit dem Kind. Diese Familie hat sich als Einheit gesehen, jeder hat seinen Teil gemacht unter dem Motto: Wir arbeiten hier für unser gemeinsames Wohl.
Ich denke auch an das sogenannte „Good Husband“-Projekt in Sambia, wo es einen ähnlichen Ansatz gibt. Dort wurde zunächst separat mit Männergruppen und Frauengruppen gearbeitet. Und dann wurden beide Gruppen zusammengeführt, um gemeinsam Themen wie Respekt und Geschlechtergerechtigkeit anzugehen. Ergebnis: Auch hier nahm in einem Stadtviertel von Lusaka die häusliche Gewalt ab.
Wie weit sind wir auf dem Weg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit gekommen?
Schirmel: Es gibt Erfolge und auch mehr Bewusstseinswandel. Es gibt aber auch Länder, in denen häusliche Gewalt, Gewalt an Frauen, gesellschaftlich stark legitimiert wird. In Sambia konnte man Sprüche hören wie: „Wenn Dein Mann Dich nicht schlägt, dann liebt er Dich nicht.“ So etwas kennen wir aus Deutschland nicht, und doch geschieht es hier immer wieder, dass Frauen durch aktuelle oder ehemalige Partner getötet werden. Da muss man sich schon fragen, was hier gesellschaftlich falsch läuft. Oder was sind die Ursachen dafür, dass Männer glauben, sie hätten das Recht, zu entscheiden, was mit einer Frau zu geschehen hat? Letztlich ist die dahinterstehende Motivation: Die Frau agiert anders, als ich das möchte. Wenn sie sich so verhält, habe ich das Recht, Gewalt anzuwenden oder sie gar zu töten, wenn sie mich verlässt.
Also müssen wir auch in unserer eigenen Gesellschaft schauen, was solches Verhalten beflügelt. Sind das nur Einzelfälle? Oder wo kann man noch mehr präventiv aktiv werden? In Deutschland werden Femizide gerne verbrämt, man spricht dann von Beziehungstaten. Wir sind hier aber keinesfalls „zivilisierter“ als anderswo: In Deutschland ereignet sich statistisch gesehen an jedem dritten Tag ein Femizid.
Was sind Gründe für patriarchale Verhältnisse? Warum gibt es zum Beispiel in Lateinamerika nach wie vor so viele „Machismo“-Gesellschaften?
Büker: Die Kolonisatoren waren Männer. Damit ist auch ein Rollenbild verbunden. Sie haben die Länder erobert, einheimische Männer ermordet und sich die Frauen genommen. Es gibt Wurzeln in traditionellen Kulturen.
Schirmel: Die Kolonisatoren haben sich die Frauen genommen, die in ihrem Bilde, weil sie nicht europäische, weiße Frauen waren, per se noch einmal gesellschaftlich eine Stufe tiefer standen. Das waren in ihren Augen ja „minderwertige“ Menschen, bei denen man das Recht in Anspruch nahm, sie schlecht zu behandeln.
Büker: Religion spielt eine große Rolle. Die tradierte Auslegung der Botschaft des Christentums „Die Frau sei dem Manne untertan“ prägt das Verhalten von Männern bis heute und trägt auch zu einer hohen Gewaltbereitschaft bei, zu Sexismus und patriarchalem Denken. Zu diesem Denken hat die katholische Kirche wesentlich beigetragen. Fehlende Bildung ist ebenfalls ein Bereich, der zu nennen ist.
Warum sind 85 bis 90 Prozent der Gefängnisinsassen Männer?
Schirmel: Gegenfrage: Warum sind die überwiegende Zahl derjenigen, die sich selbst töten, auch Männer? Darin zeigt sich doch auch eine gewisse Hilflosigkeit, mit dem eigenen Leben klarzukommen. Vielleicht auch weil es bestimmte Vorgaben gibt, wie ich als Mann zu sein habe. Und wenn ich dem so gar nicht mehr gerecht werde und keinen anderen Ausweg mehr weiß, dann greife ich womöglich zu einem Gewaltmuster und begehe Suizid.
Büker: Ein Männernetzwerk veranstaltet in diesen Tagen in Berlin ein Treffen zu einem Buch mit dem Titel „Was Männer kosten“. Darin wird vorgerechnet, dass unser Verständnis von Männlichkeit Deutschland jährlich 63 Milliarden Euro kostet – etwa für Strafvollzug, die Folgen von häuslicher Gewalt und Suchtverhalten, für Polizei oder Frauenhäuser. Gleichzeitig gibt es ja Kultur. Nicht nur, um uns zu zähmen, sondern auch um uns anders zu entwickeln. Letztlich ist Verhalten immer eine Mischung aus Natur und Kultur. Klar ist, dass ich aus biologischen Dispositionen keine Rechte ableiten kann. Ich muss sie in meine Persönlichkeit integrieren.
Was muss weiter geschehen?
Büker: Der Ukraine-Krieg und die Außenwirkung des ukrainischen Präsidenten Selensky sind letztlich fatal auf dem Weg zu einem integrativen Männerbild. Frauen werden Opfer, können aber auch fliehen. Männer müssen dableiben und als Soldaten kämpfen. Russische Mütter trauern über ihre getöteten Männer und Söhne, genauso wie die ukrainischen Mütter. Wir brauchen andere Denkweisen, das heißt von der Kultur, der Theologie, den Geisteswissenschaften muss das Ganze angegangen und betrachtet werden. Andere Denkweisen, Körper und Geist zusammenzudenken, das alles ist notwendig. Ebenso eine Gesetzgebung, die Männerrollen stärker neu definiert. Neue Bildungssysteme müssen her, Forschung, mehr Aufklärung, Fakten müssen sichtbar werden, und wir brauchen neue, andere Rollenmodelle von Männlichkeit. Das, was wir an Alternativen brauchen, muss vorgelebt werden.
Schirmel: Es sind im Übrigen nicht nur Männer, die Gewalt akzeptabel finden. Auch das Verhalten vieler Frauen begünstigt diese Situation. Es gibt überraschende Statistiken, nach denen in den meisten Ländern der Erde mehr Frauen als Männer die Frage bejahen, ob es gerechtfertigt sein kann, die Ehefrau zu schlagen, zum Beispiel in Äthiopien (Laut der Bundeszentrale für politische Bildung im Verhältnis 68 zu 45 Prozent). Ähnliches sehen wir in Ländern wie Ghana, Ruanda, Uganda, aber auch Indonesien, Laos, Pakistan. Gerade also in Ländern, wo der Bildungsstand von Frauen besonders niedrig ist, wachsen Mädchen damit auf, dass sie eine untergeordnete Rolle spielen.
Das Ganze ist systemisch, insofern muss man mit Männern und Frauen an neuen Rollenbildern und Denkmustern arbeiten, auch wenn es um Gewalt geht. Auch die Männer sind Söhne von Müttern, es fängt an mit der Frage, wie erziehe ich meine Söhne, was gebe ich ihnen an Rollenbildern mit, wie respektvoll gehen wir innerhalb unserer Familie miteinander um. Es darf nicht das generelle Bild von bösen Männern und armen Frauen entstehen. Natürlich sind Frauen zumeist Opfer und leiden besonders unter patriarchalen Gewaltstrukturen, aber vielfach stützen sie das vorherrschende System auch.
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