Am 23. Juni wird der neue argentinische Präsident Javier Milei zum Staatsbesuch in Berlin erwartet. Lateinamerikanische und deutsche Organisationen protestieren gegen Mileis sozialen Kahlschlag, zunehmende Repression und dessen Unterstützung für Rechtsextreme in Europa. Misereor hat den Bundeskanzler aufgefordert, die Missstände gegenüber Präsident Milei deutlich zu problematisieren und innerhalb der EU für ein Aussetzen der Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten einzutreten.
Roter Teppich für Galionsfigur einer neuen rechtsextremen Internationale?
Am Tag nach den Europawahlen war die Euphorie des argentinischen Staatspräsidenten Javier Milei groß: „Uns erreichen großartige Nachrichten vom Alten Kontinent. Die neuen Rechten haben einen Erdrutschsieg erzielt und all jene ausgebremst, die die Agenda 2030 vorantreiben.“ Die Agenda für nachhaltige Entwicklung bezeichnete Milei als „unmenschlich“, ihre Fortsetzung würde den Westen in die „Auslöschung“ führen. Bereits am 19. Mai war Milei in Madrid als Stargast einer Wahlkampfveranstaltung der rechtsextremen spanischen Partei VOX aufgetreten, gemeinsam mit Giorgia Meloni, Marine Le Pen und Viktor Orbán.
Wenn Javier Milei am kommenden Wochenende Deutschland besucht, kann er sich gleichwohl auf zwei Ehrungen freuen: Am 22. Juni verleiht ihm die Hayek-Gesellschaft in Hamburg die „Hayek-Medaille“ und würdigt ihn als „leuchtendes Beispiel für die Kraft liberaler Ideen in einem demokratischen Gemeinwesen“, wie es in einer Pressemitteilung der Gesellschaft heißt. Am nächsten Tag empfängt ihn Bundeskanzler Olaf Scholz mit militärischen Ehren in Berlin.
Die erste Ehrung verwundert kaum. Denn zu den Mitgliedern der „liberalen“ Hayek-Gesellschaft gehören unter anderen die AfD-Politiker*innen Beatrix von Storch und Peter Boehringer sowie der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. Bereits 2015 hatten Bundesfinanzminister Christian Lindner und andere die Gesellschaft wegen ihrer rechten Unterwanderung verlassen.
Weitaus befremdlicher ist, dass Bundeskanzler Olaf Scholz den rechtsidentitären Klimaleugner und bekennenden Anarchokapitalisten Milei mit militärischen Ehren hofiert. Er ist damit der erste europäische Staatschef, der Milei den roten Teppich ausrollt. Zum Vergleich: Sein spanischer Amtskollege Pedro Sánchez hatte nach Mileis Wahlkampfauftritt in Madrid vor einer „rechtsextremen Internationale“ gewarnt und die spanische Botschafterin aus Argentinien abberufen. Milei hatte Sánchez als „Lügner“ und „Feigling“ und dessen Ehefrau als korrupt beschimpft.
Bundesregierung will Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten absichern
Der Grund für die Avancen des Bundeskanzlers liegt in seinem großen Interesse an einem Handelsabkommen der EU mit den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay. Ende 2023 war dessen Abschluss greifbar nahe, bis der damalige argentinische Präsident Alberto Fernández die Notbremse zog, um die Entscheidung seinem bereits gewählten Nachfolger Javier Milei zu überlassen. Wenige Tage später gratulierte Scholz dem neuen argentinischen Präsidenten, und bereits am 9. Januar 2024 führten beide ein Telefongespräch „über bilaterale und multilaterale Themen, auch über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den MERCOSUR-Staaten“, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit mitteilte: „Sie waren sich einig, dass die Verhandlungen über das Abkommen zügig abgeschlossen werden sollen“.
Seit langem warnen Misereor und viele andere europäische und lateinamerikanische Organisationen vor einem solchen Abkommen, das sich für Klimakrise, Artensterben und Menschenrechtsverletzungen als veritabler Brandbeschleuniger erweisen könnte. Es würde den europäischen Zugang zu Rohstoffen wie Eisenerz, Bauxit, Kupfer und Lithium absichern, deren Abbau in ökologisch sensiblen Regionen immer wieder zu Umweltkatastrophen führt und Lebensgrundlagen lokaler Gemeinschaften zerstört. Es würde den Export von Rindfleisch, Geflügelfleisch, Zuckerrohr, Bioethanol und Soja erleichtern, deren expansive Produktion im Amazonas, im Cerrado und im Chaco mit Brandrodungen einhergeht und die Landrechte kleinbäuerlicher und indigener Gemeinschaften wie der Guarani-Kaiowá in Mato Grosso do Sul in Brasilien oder der Ayoreo in Paraguay verletzt.
Im Gegenzug würde es europäischen Automobilkonzernen erlauben, zollvergünstigt auch Autos mit Verbrennungsmotoren nach Südamerika zu exportieren, deren Verkauf in der EU ab 2035 aus Klimagründen größtenteils verboten wird. In Argentinien und Brasilien drohen durch die verschärfte europäische Konkurrenz zudem massive Arbeitsplatzverluste.
Chemiekonzerne könnten außerdem zu niedrigeren Zollsätzen Pestizide nach Südamerika exportieren, die zum Schutz von Umwelt und Gesundheit in der EU zum Teil nicht zugelassen sind. Auf Sojamonokulturen werden diese häufig aus Flugzeugen versprüht, wobei Anwohner*innen und Schulkinder, die Tiere und die Umwelt den Giften schutzlos ausgeliefert sind. Lateinamerikanische Menschenrechtsorganisationen haben diesbezüglich im April 2024 gemeinsam mit Misereor und dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) eine Beschwerde gegen das Unternehmen BAYER AG (ex-Monsanto) bei der nationalen Kontaktstelle der OECD in Deutschland eingereicht.
Wie ein Rechtsgutachten im Auftrag von Misereor und Greenpeace zeigt, würde das Nachhaltigkeitskapitel im vorliegenden Text des Abkommens wohl keine dieser Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden verhindern. Als einziges Kapitel unterliegt es nicht dem sanktionsbewehrten Streitschlichtungsmechanismus des Abkommens, so dass die Bestimmungen nicht durchsetzbar sind. Ohnehin erschöpfen sich die Nachhaltigkeitsbestimmungen weitgehend in vagen Bemühungsklauseln, die über bereits bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen der Vertragsstaaten nicht hinausgehen.
Erhöhte Risikolage unter Präsident Milei
Das Risiko, dass die Umsetzung des Handelsabkommens zu sozialen Verwerfungen, Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen beitragen wird, ist in Argentinien seit dem Amtsantritt von Milei im vergangenen Dezember überdies deutlich gestiegen. Wie Milei im Wahlkampf mit einer Kettensäge in der Hand angekündigt hatte, halbierte er kurz nach Amtstritt die Anzahl der bis dahin 18 Ministerien. Geschlossen wurden unter anderem das Umweltministerium, die Menschenrechtsabteilung im Justizministerium und zuletzt das Frauenministerium.
Der radikale Sparkurs der Regierung hat zwar zur Stabilisierung des Haushalts und Eindämmung der Inflation beigetragen, zugleich aber die Rezession, Arbeitslosigkeit und Armut massiv verschärft. Die Armutsrate ist im ersten Trimester 2024 gegenüber dem Vorjahr von 44,7 auf 55,5 Prozent angestiegen. Besonders hart treffen die Sparmaßnahmen die Ärmsten der Armen und Kinder, die auf Volksküchen angewiesen sind, denen Milei die Finanzierung gestrichen hat.
Am 12. Juni verabschiedete der Senat zudem nach langen Auseinandersetzungen und mit äußert knapper Mehrheit die so genannte Ley Bases, das Kernprojekt der Regierung Milei. Das Gesetzespaket, mit über 200 Artikeln, gestattet ihm für ein Jahr, in den Bereichen Verwaltung, Wirtschaft, Finanzen und Energie mit Sondervollmachten zu regieren. Neben radikalen Renten- und Lohnkürzungen und einem Privatisierungsprogramm für Staatskonzerne sieht das Gesetzespaket außerdem extreme Steuererleichterungen für Unternehmen und Wohlhabende sowie ein umfassendes Programm zur Liberalisierung und Förderung von ausländischen Investitionen vor, insbesondere im Energie- und Agrarsektor.
So erlaubt das neu geschaffene Régimen de Incentivo para Inversiones (RIGI) den Abbau natürlicher Ressourcen wie zum Beispiel Lithium ohne Umweltfolgenabschätzungen, die andernorts weltweit Standard sind. Darüber hinaus erlaubt Artikel 12 der Ley Bases der Verwaltung, künftig ohne gerichtlichen Beschluss Menschen und Gemeinschaften zu enteignen, die auf staatlichen Ländereien leben und ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dies betrifft nicht zuletzt zahlreiche indigene Gemeinschaften, die nach der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation eigentlich einen besonderen Schutz genießen.
Die Verabschiedung des Gesetzespakets wurde von massiven Protesten vor dem Kongressgebäude begleitet, welche die Polizei mit Gasgeschossen und Schlagstöcken gewaltsam niederschlug. Präsident Milei bezeichnete die Protestierenden anschließend als „Terroristen“ und bezichtigte sie, einen Staatsstreich geplant zu haben. Den über 30 festgenommenen Personen droht eine drastische Strafverfolgung. Bereits im Wahlkampf und seit Amtsantritt sind Gewerkschaften, Umwelt-, Menschenrechts- und Frauenorganisationen regelmäßigen Anfeindungen und Hasstiraden des Präsidenten ausgesetzt. Die bereits im Dezember verschärften Gesetze zum Versammlungs- und Demonstrationsrecht wurden von der Innenministerin Patricia Bullrich, gern gesehene Gesprächspartnerin Naumann-Stiftung und der deutschen Botschaft in Buenos Aires, knallhart angewendet.
Handelsinteressen über Menschenrechte?
Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass Gemeinschaften im Umfeld von Bergbau- und Energieprojekten, Sojafeldern und Rinderfarmen der Willkür von Unternehmen, Großgrundbesitzern, Polizei, privaten Sicherheitskräften und Verwaltungen noch schutzloser ausgeliefert sein werden als bisher. Genau diese Wirtschaftszweige würden in Argentinien aber von dem Handelsabkommen mit der EU profitieren.
Umso problematischer ist es, dass die Bundesregierung sogar ein vorläufiges Inkrafttreten des Handelsteil ohne Kooperationsteils anstrebt. Damit dürften nationale Parlamente der EU-Mitgliedstaaten über das Abkommen nicht mitentscheiden, und im EU-Rat würde zur Verabschiedung eine qualifizierte Mehrheit ausreichen. Einstimmigkeit wäre nicht mehr erforderlich. Eine weitere Konsequenz: Die Menschenrechtsklausel, die nur im Kooperationsteil verankert ist, würde ebenfalls abgespalten. Damit würde sich die EU der Möglichkeit berauben, auf schwere Menschenrechtsverletzungen und Angriffe auf die Demokratie mit dem Entzug von Handelsvergünstigungen des Handelsabkommens zu reagieren. Genau diese Situation könnte in den nächsten Jahren in Argentinien aber eintreten.
Eine solche Politik der Bundesregierung und der EU ist unverantwortlich. Sie ist mit den so genannten „europäischen Werten“ und einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ nicht vereinbar. Statt nach dem Prinzip „Augen zu und durch“ das Handelsabkommen durchzupeitschen, sollte die Bundesregierung für eine Aussetzung der Handelsgespräche eintreten und damit zugleich ein deutliches Zeichen gegen den internationalen Rechtsextremismus setzen.
excelente descripción de la situación
Sehr guter Beitrag!