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Indigene sind uns weit voraus

Wer die notwendige sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft erfolgreich vorantreiben will, sollte die Dinge ganzheitlich angehen. Davon ist Jörg Elbers, Misereor-Fachreferent für ländliche Entwicklung in Lateinamerika, überzeugt. Was darunter zu verstehen ist, erläutert er im Interview.

Jörg Elbers, Referent für ländliche Entwicklung in Südamerika, ist überzeugt, dass Indigene Völker mit ihrer Lebensweise zeigen, dass man in den Grenzen unseres Planeten leben kann. © Soteras | Misereor

Vor mehr als zehn Jahren hast Du ein Buch über Holistische Wissenschaft veröffentlicht, in dem Du einen ganzheitlichen Ansatz darüber entfaltest, wie wir dem Ziel eines guten Lebens für alle Menschen näherkommen können. Gleichzeitig warnst Du in dem Werk vor dem bereits eingetretenen Ausmaß des Klimawandels. Wie aktuell sind die in dem Werk formulierten Gedanken und Erkenntnisse heute? Müssen bestimmte Details mit Blick auf den rasanten Fortgang der Klimaerhitzung heute anders betrachtet bzw. neu bewertet werden?

Jörg Elbers: Insgesamt haben sich die Klimaveränderungen so entwickelt wie zum Veröffentlichungszeitraum des Buches prognostiziert. Die Gesamtlage hat sich generell deutlich verschlechtert. Die Zerstörung unseres Planeten ist weiter vorangeschritten.

Dass die Klimaerhitzung sehr schnell voranschreitet, hat an der Grundaussage Deines Buches also auch nichts verändert.

Elbers: Im Jahr 2007 habe ich das Buch von James Lovelock über die Auswirkungen des Klimawandels gelesen, The Revenge of Gaia: Why the Earth is Fighting Back and How We Can Still Save Humanity. Dieses Buch hat mein Leben verändert: Ich habe begriffen und gefühlt, welche Dimension diese Entwicklung hat. Ich habe dann damit begonnen, Vorträge zum Thema zu halten, Uni-Kurse zu veranstalten, Artikel geschrieben zum Ausmaß des Klimawandels. Das, was uns der IPCC, also der Weltklimarat, vermittelt, sind Berichte, die von allen Ländern der Vereinten Nationen abgesegnet werden. Auf der ausgezeichneten wissenschaftlichen Grundlage der Klimaforschung feilen politische Vertreter der Mitgliedsstaaten monatelang an jedem Wort– mit dem Ergebnis, dass diese Berichte verwässert werden. Ich habe 2007 angefangen, zum echten Klimawandel, also dessen wahrem Ausmaß, intensiv zu arbeiten. Und dabei zeigt sich eine andere Wahrheit, nämlich die, dass uns schon sehr bald aufgrund der Erderhitzung schwerwiegende Veränderungen bevorstehen könnten. Umso bedenklicher ist es, dass zwar seit der Weltklimakonferenz von Paris 2015 politisch das Ziel vorgegeben wird, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, aber nicht ansatzweise genug getan wird, um dieses Ziel wirklich zu erreichen.  

Nach jüngsten Berichten ist die Erhöhung der Durchschnittstemperatur auf 1,5 Grad im Jahr 2023 bereits fast erreicht worden.

Elbers: So ist es. In meinem Buch, aber auch in vielen Vorträgen und Kursen, habe ich angesichts dieser Entwicklung dafür plädiert, mit einem ganzheitlichen Ansatz und Weltbild umzusteuern.

Heißt das, dass die großen UN-Organisationen und Klimagipfel diesen ganzheitlichen Ansatz nicht verfolgen?

Elbers: Ja, zum großen Teil tun sie das leider nicht.

Die sind zu extremen Kompromissen bereit, aufgrund derer sich dann nur unwesentlich etwas ändert?

Elbers: Das Problem ist, dass die ganzheitliche Sichtweise fehlt. Die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN stehen wie einzelne Säulen im mechanistischen Weltbild. Die komplexen Zusammenhänge des Erdsystems werden ausgeklammert.

Die Landwirtschaft im Andenhochland in Bolivien ist an Natur und Klima angepasst. Eine Frau vom Misereor-Projektpartner „Fundación Eclesial Agroecología y Fe“ zeigt stolz ihre Gemüse- und Salatpflanze. © Soteras | Misereor

Was sind die wichtigsten Botschaften, die von deinem Buch ausgehen sollen?

Elbers: Ganz wichtig ist, dass wir lernen, mit der Komplexität auf diesem Planeten zu leben, und dass es keine einfachen, linearen Lösungen gibt. Die Basis-Prinzipien der ganzheitlichen Wissenschaft, der Quantenphysik zum Beispiel, sagen, dass die Grundlage allen Lebens Energie und Beziehungen sind. Alle großen Physiker oder Systemtheoretiker haben sich auch zu den philosophischen Fragen des Lebens geäußert, wie Einstein zum Beispiel. Oder Hans-Peter Dürr. Dürr hat das sehr schön ausgedrückt: Die Prinzipien der Quantenphysik werden angewandt in allen technischen Geräten unserer Zeit – wie etwa dem Computer. Aber: Die Philosophie, die dahintersteht, bedeutet, dass alles, was ich im Lebensnetz tue, auf mich zurückfällt: Wenn ich zum Beispiel Natur zerstöre oder den Lebensraum von Tieren, wenn ich andere Völker unterdrücke. Das wird in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion ausgeklammert. Ein ganzheitliches Weltbild besteht aus allen Lebewesen und deren Beziehungen untereinander. Das ist unser Lebensnetz. Kein Lebewesen ist in der Lage, ohne Beziehungen zu leben.

Du bist in Deinem Buch zeitlich weit zurückgegangen, um zu ergründen, wie die heutige Menschheit nicht zuletzt durch die industrielle Entwicklung in die Sackgasse geraten ist, in der wir uns heute befinden – wie man etwa an den unheilvollen Folgen der Erderhitzung sieht. Wie konnte es so weit kommen, dass die Mächtigen diese Fehlentwicklung nicht erkannt bzw. korrigiert haben und wir nun damit konfrontiert werden, dass es um die gesamte Existenz der Menschheit geht?

Elbers: Macht, Gier und Hochmut stehen dem entgegen. Das sind Faktoren, die die dem heute vorherrschenden Weltbild immanenten Prozesse vorantreiben.

Gehören Macht, Gier und Hochmut nicht ein Stück weit zum Menschen dazu? Oder ist der Mensch durch das vorherrschende System so negativ beeinflusst worden?

Elbers: Er ist durch das vorherrschende System beeinflusst worden. Es gibt ja auch andere, vor allem indigene Gesellschaften, die zeigen, dass es Alternativen gibt. An deren Weltbild und Wissen, das über tausende Jahre entwickelt wurde, sollten wir uns orientieren.

Weil indigene Völker mit ihrer Geschichte und Lebensweise zeigen, dass man in den Grenzen unseres Planeten leben kann. Und sogar gut leben kann.

Elbers: Ganz genau. Hier zeigen sich die Prinzipien der System- und Komplexitätstheorie, die genau darauf abzielen. Zum Beispiel, dass ich, bevor ich anfange, mit Goldbergbau den Regenwald zu verwüsten und die Flüsse mit hochgiftigen Chemikalien zu verseuchen, überlege, was dieser Schritt für meine Nachfahren bis in die siebte Generation bedeutet. Oder, dass ich verantwortlich bin für mein Handeln. Das heißt zum Beispiel: Wenn ich als Staatspräsident einem anderen Land den Krieg erkläre, dann muss ich selbst vorneweg in den Krieg ziehen, wie früher im Mittelalter. Würde man mit diesem Prinzip Ernst machen, wäre spannend zu sehen, wer dann noch einen Krieg erklärt.

Es wird ja viel über Auswege aus den Krisen unserer Zeit diskutiert. Hast Du den Eindruck, dass die modernen Gesellschaften daraus im positiven Sinne schon etwas gelernt haben? Oder sind wir immer noch auf einem absoluten Irrweg?

Elbers: Es gibt tolle Beispiele überall auf unserem Planeten, gerade auch bei den Partnerorganisationen von Misereor, die zeigen, wie es anders gehen kann. Von daher ist es ganz wichtig, dass die vielen guten und förderungswürdigen Ansätze vernetzt werden. Wir wissen nicht, wieviel Knoten wir knüpfen müssen, aber entscheidend ist, dass am Ende ein neues Netz, ein neues System entstehen kann.

Ist denn ein neues System erkennbar?

Elbers: Es ist ganz viel erkennbar. Solidarische Landwirtschaft, die Gemeinwohlökonomie, diverse Kooperativen, die Lebensmittelretter*innen – es gibt zahlreiche Beispiele für Ansätze zu einem Systemwandel. Aber: Entweder kommen die Akteurinnen und Akteure kaum in die Schlagzeilen oder sie werden zum Beispiel wegen zivilen Ungehorsams von Gerichten verurteilt.

Von den indigenen Praktiken in der Landwirtschaft profitieren auch nachfolgende Generationen. © Soteras | Misereor

Können wir unser altes System wirklich hinter uns lassen?

Elbers: Wir sind jetzt in die Phase eingetreten, wo klar ist, dass dieses System verschwinden wird. Weil es sich selbst zerstört.

Werden die Menschen erkennen, dass sie die Dinge gründlich anders machen müssen?

Elbers: Wenn wir so weitermachen, dann werden uns viele Lebensräume verloren gehen. Vor uns stehen mit großer Wahrscheinlichkeit drastische Veränderungen.

Nun gibt es ja allgemein verbindliche politische Ziele, etwa, dass wir bis 2045 klimaneutral sein wollen. Sind diese Ziele nicht realistisch, weil wir viel zu spät dran sind?

Elbers:  Die offiziellen Klimaziele verharmlosen die wahre Lage. Wir müssen viel mehr viel schneller tun, um eine neue Heißzeit abzuwenden.

Wo wäre ein Weg, das alles noch produktiv gestalten zu können?

Elbers: Ich empfehle, diesbezüglich die Arbeit unserer Misereor-Partnerorganisationen in Lateinamerika in den Blick zu nehmen, die an ganzheitlichen systemischen Themen arbeiten. Eine positive Umsetzung dessen, was notwendig ist, sehe ich in agrarökologischen Praktiken, wie zum Beispiel der dynamischen Agroforstwirtschaft. Das sind Anwendungsbeispiele dessen, wie wir eine Systemumstellung verwirklichen können. Gleichzeitig sehen wir aber, dass der Klimawandel ein neues Geschäftsfeld des Kapitalismus darstellt. Viele Institutionen leben von ihm und wollen die Erderhitzung mit technologischen Lösungen eindämmen. Es gibt aber keine technologische Lösung gegen die Klimakatastrophe. Sondern die Lösungen hängen davon ab, wie wir leben, jeder von uns. Wie ich mit den Gütern, die ich benutze, und der Natur umgehe. Dazu gehört auch ein massives Umdenken: Es ist in uns eingebrannt, dass wir von „Umwelt“ sprechen. Es gibt aber keine Umwelt. Es gibt nur eine Mitwelt. Die indigenen Völker haben auch keinen Begriff für Natur, die „Natur“ ist existentieller Teil ihrer Mitwelt. Das ist sehr wichtig zu unterscheiden.

Ist es das, was wir von den Indigenen in besonderer Weise lernen können?

Elbers: Ja, auf jeden Fall. Es berührt in tiefstem Sinne die Art und Weise, wie wir die Welt und das Leben sehen. Wir sind Teil des Ganzen und können uns nicht einfach an den Gütern der Erde bedienen. Nehmen wir auch den Begriff „Ressourcen“. Es gibt keine Ressourcen, zumindest nicht in dem Sinne, wie wir sie normalerweise benutzen. Es sind Naturgüter.

Was können wir jetzt tun? Sind wir zu spät dran?

Elbers: Wir haben noch die Möglichkeit, hier wieder herauszukommen. Der Wandel kann nur von jedem einzelnen ausgehen. Ich kann nicht den Wandel für andere Leute machen. Bewusstsein, ohne danach ins Handeln zu kommen, reicht natürlich nicht. Es gibt ganz viele einfache und einzelne Schritte, die wir tun können. Unsere Welt funktioniert in großen Teilen in nicht linearer Weise, entwickelt sich also nicht geradlinig, logisch und schrittweise. Das bedeutet zum Beispiel, dass etwa wenn der prognostizierte klimatische Kipppunkt in der Amazonas-Region eintreten sollte, innerhalb von wenigen Jahren aus seinem Regenwald eine Steppe oder gar Wüste wird. Unsere Denke ist eine andere: Wir haben jetzt ungefähr 20 Prozent des Regenwaldes im Amazonasgebiet gerodet, also stehen uns noch 80 Prozent seiner Funktionen zur Verfügung, bei 50 Prozent Zerstörung wäre es immer noch die Hälfte: Nur: So funktionieren natürliche Systeme nicht. Bei einem gewissen Grad der Zerstörung (± 40 Prozent) kippt das System komplett. Die Auswirkungen der Klimaerhitzung sind jetzt schon sehr stark zu spüren: Die Intensität der Dürreperioden in dem vormals immer feuchten Amazonas-Gebiet nimmt immer mehr zu.

Nochmals gefragt: Was können wir von den indigenen Völkern lernen?

Elbers: Ganz zentral ist die Achtsamkeit. Wir müssen unsere Beziehungen zu Mutter Erde wieder herstellen und heilen. Das ist es, woraus ich meine Spiritualität ziehe. Und wir müssen uns als integralen Teil des Ganzen betrachten. Wir haben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten gegenüber unserer Mitwelt und Mutter Erde.

Interview: Ralph Allgaier

Zum Buch: Ganzheitliche Wissenschaft für ein gutes Leben Eine Einführung von Jörg Elbers


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Ralph Allgaier ist Pressesprecher bei Misereor.

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