Die Journalistin Andreia Fanzeres ist Mitglied der Misereor-Partnerorganisation Operação Amazônia Nativa (OPAN), die für die Anliegen der indigenen Völker Brasiliens kämpft. Sie lebt seit 17 Jahren in Mato Grosso, wo sie sich intensiv mit den Rechten der Indigenen auseinandersetzt. Seit 2023 koordiniert Fanzeres bei OPAN den Bereich Kommunikation und leitet seit 2016 das Programm für indigene Rechte und indigene Politik. Als Journalistin erhielt sie zahlreiche, auch internationale Preise für ihre Umweltberichterstattung.
Frau Fanzeres, ursprünglich kommen Sie aus der Hauptstadt Rio de Janeiro. Wie hat das Ihr Blick auf die Lebensrealität der Indigenen verändert, seitdem sie in Mato Grosso leben?
Andreia Fanzeres: Zwei Jahre habe ich in Juína gelebt, einer Stadt im Nordwesten von Mato Grosso. Diese Erfahrung war ein Wendepunkt. Aus nächster Nähe die Realität dort zu erleben, hat mir eine viel tiefere und menschlichere Perspektive auf Themen wie Abholzung und die Besiedlung des Amazonasgebiets vermittelt. In Rio waren diese Themen für mich eher abstrakt. Mit der Zeit habe ich mich dann stärker im Programm für indigene Rechte engagiert, das ich heute leite.
Was umfasst dieses Programm genau?
Fanzeres: Unser Programm-Fokus liegt auf den Landrechten der indigenen Völker, dem Schutz ihrer Territorien und dem Monitoring der Bedrohungen, die für indigene Gebiete existieren. Wir beobachten auch die politischen Entwicklungen in Brasília, wo ständig neue Gesetzesvorhaben entworfen werden, um die Rechte der indigenen Völker einzuschränken. Hinzu kommen die Mobilisierung und Schulung der indigenen Völker, beispielsweise in Rechtsfragen. Wir arbeiten mit Anwälten, Indigenisten und anderen Fachleuten zusammen, immer mit dem Ziel, die Autonomie der indigenen Völker zu fördern, die die wahren Protagonisten ihres Kampfes sind.
Wie bewerten Sie die Herausforderungen, denen indigene Gemeinschaften in der Region gegenüberstehen?
Fanzeres: Die Herausforderungen sind enorm. Es gibt ständigen Druck durch die Agrarindustrie, wir sehen den intensiven Einsatz von Pestiziden, viel Abholzung und sogar physische und strukturelle Gewalt. Ein Beispiel ist die Region des Juruena-Flusses, ein strategisch wichtiges Gebiet mit reichen natürlichen Ressourcen, das massiv unter wirtschaftlichem Druck steht. Kleine Wasserkraftwerke werden dort gebaut, um die Bedürfnisse der Agrarindustrie zu bedienen, was natürlich die Wasserressourcen gefährdet und die jahrhundertealte Verbindung der indigenen Völker zu ihrem Land und ihren Flüssen untergräbt.
Sie haben Gewalt erwähnt. Könnten Sie diesen Punkt genauer erläutern?
Fanzeres: Gewalt gegen indigene Führungspersönlichkeiten ist eine Realität in Brasilien. Diese Gewalt kann physisch sein, etwa durch Drohungen oder sogar Mord, aber auch strukturell, etwa in Form von Ausgrenzung, Diskriminierung und fehlender staatlicher Unterstützung. Auch Organisationen wie OPAN stehen unter Druck. Ich selbst wurde schon bedroht und Kollegen haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Kürzlich wurde eine indigene Führungspersönlichkeit, mit der wir zusammenarbeiten, mit dem Tod bedroht. Es ist schwer, die Urheber zu identifizieren. Sie kommen aus verschiedenen Richtungen: illegale Goldsuchern, Holzfäller, Viehzüchter, Landdiebe. Gerade die Drohungen gerade gegen junge und weibliche indigene Führungspersonen haben zugenommen.
Hat die Wahl von Lula da Silva zum Präsidenten im Jahr 2022 nicht zu Verbesserungen geführt, nachdem es während der Präsidentschaft des rechtsextremen Jair Bolsonaro zahlreiche Invasionen von indigenen Reservaten und Gewalt gegen Indigene gegeben hatte?
Fanzeres: Es gibt durchaus Fortschritte, besonders im Vergleich zu den vier Jahren unter Bolsonaro, in denen die staatlichen Strukturen zum Schutz der Indigenen und der Umwelt massiv untergraben wurden. Jetzt haben wir das neu gegründete Ministerium für Indigene, die Indigenenbehörde Funai sowie ein Umweltministerium, die alle versuchen, ihre Aufgaben gutzumachen. Aber das reicht nicht aus. Das Budget für sozio-ökologische Politik ist nach wie vor unzureichend und im Kongress werden Umweltfragen oft als politisches Tauschmittel benutzt. Außerdem gibt es weiterhin Gewalt auf dem Land und Abholzungen insbesondere in weniger bekannten Ökosystemen wie dem Cerrado, die wenig Aufmerksamkeit erhalten, auch international.
Wie steht es um die kulturelle Dimension? Welchen Stellenwert besitzen indigene Kulturen und Sprachen?
Fanzeres: Die kulturelle Frage ist zentral. Die Sprache zum Beispiel ist ein wesentlicher Teil der indigenen Identität. Leider sterben viele Sprachen aus, da die Sprecher meist ältere Menschen sind. Während der Covid-19-Pandemie verschärfte sich die Lage, da viele Alte starben, die traditionelles Wissen hatten. Es ist wichtig zu verstehen, dass viele Traditionen, wie heilige Gesänge, nicht übersetzt oder anders als oral weitergegeben werden.
Und welche Rolle spielt OPAN in diesem Kontext?
Fanzeres: Wir unterstützten die Pflege traditioneller Feste, des Handwerks und anderer kultureller Ausdrucksformen, die dazu beitragen, Sprache und Identität der indigenen Völker lebendig zu halten. Ich glaube, dass unsere Unterstützung wichtig dafür ist, dass die indigenen Völker ihre Autonomie bewahren können. Oft fungieren wir als Brücke zwischen den lokalen Anliegen und dem politischen System, indem wir den traditionellen Völkern helfen, ihre Rechte zu erkennen, zu artikulieren und sie auch juristisch einzufordern. Unser Ziel ist, dass die indigenen Völker selbst die Protagonisten ihrer Kämpfe sind.
Bevor wir abschließen: Möchten Sie noch etwas über die Zukunft sagen?
Fanzeres: Die Zukunft der indigenen Völker ist untrennbar mit dem Erhalt ihrer Territorien und Kulturen verbunden. Der Kampf um ihre Rechte ist ein Kampf um Gerechtigkeit, nicht nur für sie, sondern für uns alle, wenn man die Bedeutung des Amazonas und anderer Ökosysteme für das globale Klimagleichgewicht bedenkt. Die Gesellschaft muss verstehen, dass die Indigenen unser aller Interessen verteidigen und dass man sie darin unterstützen muss, anstatt sie zu bekämpfen.
Interview von Philipp Lichterbeck
Dieser Artikel erschien in gekürzter Form im Misereor-Magazin „frings“. Das Magazin können Sie hier bestellen oder hier online durchstöbern.