Nach zwölf Jahren Leitung des von Misereor unterstützten Al-Mouna-Zentrums im Tschad kehrt Schwester Aida Yazbeck nun in ihr Heimatland Libanon zurück. Sie prägte das Zentrum maßgeblich – eine Zeit, in der ich als Länderreferent für Kamerun und Tschad eng mit ihr zusammenarbeitete. Schwester Aida hat sich ihr Leben lang engagiert und eine beeindruckende Geschichte: So wurde sie etwa vom tschadischen Geheim- und Sicherheitsdienst bespitzelt – ein kleiner Einblick in die mutigen Momente, die ihre Arbeit prägten.

Schwester Aida wuchs in Jdeideh auf, einem Vorort nördlich von Beirut, in dem Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen Tür an Tür lebten. Religionszugehörigkeit spielte kaum eine Rolle: Die großen Feiertage feierte die gesamte Hausgemeinschaft gemeinsam, in Eintracht und mit viel Leben. Schon als junges Mädchen interessierte sich Aida nicht nur für ihren eigenen Glauben, sondern auch für die Bräuche ihrer Nachbarn.
In den 1960er Jahren fasste sie einen mutigen Entschluss: Sie wollte Nonne werden. Ihre Eltern unterstützten sie darin. Heute ist ihre Familie, wie viele libanesische Familien, über die ganze Welt verstreut – die meisten Verwandten leben in Kanada.
Ende der 60er Jahre trat Aida schließlich der Ordensgemeinschaft der Schwestern der Heiligen Herzen bei, einem 1853 gegründeten libanesischen Orden mit ignatianischer Spiritualität, der vor allem Mädchen den Zugang zu Bildung ermöglichen wollte. Rund 50 bis 70 % der Schülerinnen gehören anderen Religionsgemeinschaften an.
Bereits in ihrem ersten Gespräch mit den Herz-Schwestern erklärte Aida, dass sie ins Ordensleben eintreten wolle, um mit Muslimen zu arbeiten. Nach ihrem Studium der Sozialarbeit an der jesuitischen Saint-Joseph-Universität in Beirut begann sie ihre Arbeit als Ordensschwester und Koordinatorin für die Caritas im Südlibanon, in der alten phönizischen Hafenstadt Sidon – ein Engagement, das ihr Leben und das vieler Menschen nachhaltig prägen sollte.
1982: Ein Schlüsseljahr für den Libanon und die Bewährungsprobe für Schwester Aida
Schwester Aida baute in Sidon schnell ein Netzwerk ehrenamtlicher Caritas-Helfer auf, denn für sie hängt die Qualität humanitärer Arbeit entscheidend vom freiwilligen Engagement ab. Dieses Engagement zu fördern und zu erhalten war ihr ein zentrales Anliegen.
Während ihres späteren Einsatzes im Tschad fand sie eine solche Form des freiwilligen Engagements jedoch nicht vor. Ihrer Ansicht nach liegt das unter anderem am Wettbewerb internationaler Hilfsorganisationen in Krisenregionen, der oft eine „Tagegeldempfänger-Mentalität“ begünstigt.
Schon zu Beginn ihrer Tätigkeit in Sidon wurde sie Zeugin einer Nahrungsmittelverteilung der UNRWA für palästinensische Flüchtlinge. Die langen Schlangen der Hilfsbedürftigen schockierten sie – sie empfand es als entwürdigend, dass Menschen in solche Abhängigkeit geraten.
Zwischen den Fronten
1975 begann der libanesische Bürgerkrieg, 1982 marschierten israelische Truppen ein. Als Sidon von Bombardierungen bedroht wurde, floh ein Großteil der Bevölkerung nach Jezzine, Schwester Aida entschloss sich jedoch, im Dorf Lebaa zu bleiben. Von dort aus organisierte sie Hilfe für die Binnenflüchtlinge: Sie mobilisierte freiwillige Helfer, richtete Unterkünfte und Lebensmittelversorgung ein und überzeugte die lokalen Behörden, der Caritas Räumlichkeiten zu überlassen. Auch die Bäckereien wurden mit Mehl versorgt, damit die Menschen weiterhin bezahlbares Brot erhalten konnten.
Da die Straßen Richtung Süden nach Tyros und Richtung Norden nach Beirut von den israelischen Streitkräften kontrolliert und gesperrt waren, brauchte Schwester Aida eine Genehmigung, um ihre Arbeit fortzusetzen. Beim Hauptquartier der israelischen Armee in Sidon wurde sie brutal von einem Soldaten, der seinen Gewehrkolben einsetzte, zurückgestoßen. Trotz des Schocks und Schmerzes ließ sie sich nicht entmutigen und verlangte sofort, den Vorgesetzten des Soldaten zu sprechen.
Schließlich gelang es ihr, einen Offizier zu sprechen, der sich für das Verhalten des Soldaten entschuldigte und ihr einen „Laissez passer“ aushändigte. Mit dem Dokument in hebräischer Schrift konnte sie sich fortan frei bewegen und ihre Arbeit fortsetzen.
Zwischen Misstrauen und Verantwortung
Als sich die Israelis aus dem Libanon zurückzogen, vernichtete Schwester Aida das Passierschein-Dokument – aus Angst, in der aufgeheizten Stimmung jener Zeit als „Kollaborateurin“ zu gelten. Auch auf eine damals mögliche Reise nach Jerusalem, ihren Lebenstraum, verzichtete sie. Aus Verantwortungsgefühl blieb sie im Südlibanon und setzte ihre Arbeit fort.
Das Engagement von Schwester Aida im Südlibanon ist unvergessen geblieben und sie wurde 2022 zum fünfzigjährigen Bestehen der Caritas Libanon als Ehrengast eingeladen.
Dialog unter Druck
2013 übernahm Schwester Aida die Leitung des Al-Mouna-Zentrums in N’Djamena, dem kulturellen Herz des interreligiösen Dialogs im Tschad. Ihre Ordensgemeinschaft ist dort seit 1963 aktiv. Dank ihrer fließenden Französisch- und Arabischkenntnisse fand sie schnell Zugang – und schuf einen Raum, in dem Intellektuelle und Gläubige unterschiedlichster Religionen frei miteinander diskutieren konnten.
Doch der offene Austausch war zunehmend bedroht: Radikal-islamistische Strömungen gewannen Einfluss, und Anschläge der Terrorgruppe Boko Haram erschütterten das Land. Inmitten dieser Spannungen hielt Schwester Aida unbeirrt am Dialog fest – als Stimme des Miteinanders in schwierigen Zeiten.
Eine Frau trotzt dem System
Täglich ging Schwester Aida im Al-Mouna-Zentrum an Männern vorbei, die sie im Auftrag des Geheimdienstes überwachten – irgendwann zwinkerte sie ihnen nur noch zu. In einem patriarchalisch geprägten Umfeld leitete sie das Zentrum mit Mut, Tatkraft und klarer Haltung. Ihr Engagement stärkte den Dialog zwischen Muslimen und Christen und förderte eine kritischere Öffentlichkeit im Tschad. Gleichzeitig setzte sie sich für mehr freiwilliges Engagement ein – überzeugt davon, dass echte Veränderung von innen kommen muss.
Schwester Aida Yazbeck ist zurück in Beirut!
Heute ist Schwester Aida wieder in ihrer Heimat, dem Libanon. Ihr Ziel ist es jetzt, an ihrer früheren Arbeit mit den Obdachlosen von Beirut anzuknüpfen. Sie machte schon nächtliche Rundgänge in den Armenvierteln von Beirut und wurde von vielen ihrer früheren Schützlinge wiedererkannt. Sie riefen: „Oh, Aida, Du bist wieder da! Du hast ja inzwischen graue Haare bekommen!“
Quo Vadis, Libanon?
Die Zukunft des Libanon macht ihr Sorgen. Der Libanon wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Schutzort und Heimat für die orientalischen Christen geschaffen. Noch in den dreißiger Jahren waren die Christen in der Mehrheit im Libanon. Die letzte Volkszählung fand 1932 statt und ergab einen Anteil von 53 % Christen an der Bevölkerung.
Heute leben im Libanon etwa 6 Millionen Einwohner*innen, darunter sind über eine Million syrische (weit überwiegend sunnitische) Flüchtlinge und über 400.000 palästinensische (weit überwiegend sunnitische) Flüchtlinge (HCR/UNRWA 2024).
Schätzungsweise ist der Anteil der Christen an der libanesischen Bevölkerung auf unter 30 % zurückgegangen, während die sunnitischen Muslime 32 % und die schiitischen Muslime 31 % der Bevölkerung ausmachen.
Schwester Aida erinnert daran, dass das libanesische Gemeinwesen und Sozialgefüge auf einem sehr fragilen Gleichgewicht der Kräfte der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften beruhen. Diese Balance gilt es beizubehalten. Die Christen im Libanon standen immer für westliche Werte und für einen weltoffenen Libanon, eben dem Libanon, der früher die Schweiz des Nahen Ostens genannt wurde.
Geschrieben von Frank Wiegandt
Liebe Frank, du hast sehr eindrücklich von Schwester Aida geschrieben – danke dafür.