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„Wir importieren Peperoni aus Holland und schicken Tulpen nach Amsterdam.“

Carlo Petrini, Gründer der Slow-Food-Bewegung, und Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer von MISEREOR, über verführerische Niedrigpreise, die Folgen der Verschwendung und wieso wir uns von unserem Dasein als Konsumenten verabschieden sollten. Unser Ernährungssystem steckt in der Krise: Übernutzung der Böden, Überproduktion auf der einen Seite und Mangelernährung auf der anderen Seite der Welt. Was ist da los?

Carlo Petrini: Das Ernährungssystem ist schon an den Wurzeln krank. Es ist deshalb wichtig, dass ein Paradigmenwechsel in der Nahrungsmittelwirtschaft stattfindet, auf der das Ernährungssystem hier beruht. Die Massenproduktion hat zum Wertverlust von Nahrungsmitteln geführt und regt auch zur Verschwendung von Lebensmitteln an. Diese Verschwendungskultur soll dazu dienen, die Preise zu drücken. Sie zerstört jedoch Ökosysteme und die Würde des Menschen. Das ist schlichtweg kriminell.

Pirmin Spiegel: Die Agrarpolitiken der vergangenen 50 Jahre waren darauf fixiert, die Produktion über eine Industrialisierung der Landwirtschaft zu steigern. Durch dieses System bleiben immer mehr Familienbetriebe auf der Strecke, auf der ganzen Welt. Ich bin davon überzeugt, dass insbesondere die Leistungsfähigkeit von Kleinbäuerinnen, Kleinbauern und Bauernfamilien in armen Ländern nicht genutzt wird, um eine ausreichende und gesunde Ernährung sicherzustellen, die in die jeweilige Kultur passt. Das ist kein einzelnes Problem, sondern da läuft grundsätzlich etwas falsch.

Haben Sie ein Beispiel, das zeigt, was an unserem Ernährungssystem schief läuft?

Petrini: Ich möchte von einer Erfahrung sprechen, die ich in meiner Heimat im Piemont gemacht habe. Ich bestellte dort in einer Osteria eine Peperonata, ein typisches Gericht aus der Region. Und ich merkte, es schmeckte nach nichts. Ich fragte, warum die Peperoni nach nichts schmecken, und man sagte mir: „Ja, die kommen aus Holland und stammen alle aus Hydrokulturen. So sind sie länger haltbar.“ Ich wies sie darauf hin, dass es doch hier diese schmackhafte traditionelle Peperonisorte gab. Und der Restaurantbesitzer sagte mir, die werden nicht mehr angebaut, weil die aus Holland weniger kosten. Und ich fragte, was denn nun stattdessen in den Treibhäusern im Piemont angebaut werde. Und man erklärte mir: Tulpenzwiebeln. Wir importieren also Peperoni aus Holland, bringen sie mit Lastwagen zu uns, verschmutzen die Umwelt, und dann schicken wir unsere Tulpen nach Amsterdam, weil bei uns kein Mensch Tulpen kauft. Es gibt so wiederum Kohlendioxid-Ausstoß. Dazu kommt: Wir verlieren die genetische Vielfalt unserer Peperoni, generell die biologische Vielfalt. Aber gerade diese bedeutet Leben und ist auch für die Landwirtschaft wichtig!


Spiegel:
Mir fällt auch ein Beispiel ein: Ich habe 15 Jahre im Nordosten Brasiliens gelebt, im Bundesstaat Maranhão. Dieser war bis in die neunziger Jahre eine Reiskammer weit über den eigenen Bundesstaat hinaus. Heute kann dieser Staat seine eigene Bevölkerung nicht mehr ernähren. Ein Grund dafür ist, dass auch hier auf Landkonzentration und exportorientierte Landwirtschaft gesetzt wurde, während die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Menschen vor Ort nicht ernst genommen und gefördert worden sind. Brasilien allgemein und der Bundesstaat Maranhão insbesondere haben sich von einer exportorientierten Landwirtschaft abhängig gemacht. Die Folgen sind, dass Kleinbauern von ihren angestammten Feldern verdrängt werden – von einer internationalen Agrarindustrie, gegen die sie keine Chancen haben. Und so wandern die Menschen vom Land in die Städte ab. Dort gibt es aber nur begrenzten Wohnraum und begrenzte Arbeitsmöglichkeiten. Drei von vier Brasilianern leben mittlerweile in Städten. Diejenigen, die auf dem Land bleiben, arbeiten oft unter sklavenähnlichen Bedingungen für die großen Agrarkonzerne. Diese unsozialen Bedingungen führen dazu, dass Familien auseinanderbrechen und Gemeinschaftsstrukturen sich auflösen – und sie führen dazu, dass die Bauern vor Ort krank werden, weil etwa Pestizide versprüht werden. Wir brauchen Investitionen und Kreditmöglichkeiten für eine familiäre und nachhaltige Landwirtschaft, in der die Bauern Rechte haben.

Was können die Konsumentinnen und Konsumenten tun?

Petrini: Die erste Handlung ist philosophischer Art. Wir dürfen uns nicht mehr Konsumenten nennen. Der Begriff Konsument ist vor drei Jahrhunderten mit der industriellen Revolution
entstanden und bedeutet Verbrauch. Konsum ist Verbrauch. Statt Verbraucher zu sein, müssen wir uns als verantwortungsvolle Bürger verstehen. Und wir müssen Ko-Produzenten werden. Verbrauch ist passiv. Der Ko-Produzent ist aktiv. Um Ko-Produzent zu sein, muss ich informiert sein. Ich muss wissen, wie das Produkt hergestellt wurde. Das ist das Erste, worauf der Ko-Produzent achten muss.

Spiegel: Wir dürfen uns nicht vom Niedrigpreis verführen lassen. Wenn etwas für weniger verkauft wird, als es der Aufwand rechtfertigt, der hineingesteckt wurde, dann verliert das Produkt seinen Wert. Und auch die Produzenten, also die Bauern, werden dadurch abgewertet.


Welche Eigenschaften müssen erstklassige Lebensmittel haben?

Petrini: Damit ein Produkt qualitativ wertvoll ist, muss es gut, sauber und fair sein. Gut heißt, die geschmackliche Qualität und der kulturelle Kontext müssen gegeben sein. Es muss einen Zusammenhang geben zwischen dem Lebensmittel und unserer Geschichte, unserer Tradition. Dann besitzt es kulturelle Qualität. Punkt zwei: Das Nahrungsmittel muss sauber sein, es darf die Umwelt nicht zerstören. Drittens: Die soziale Gerechtigkeit ist wichtig. Das heißt, wir müssen den Bauern einen fairen Preis zahlen. Wenn wir diese drei Bedingungen haben, legen wir die Grundlagen für eine bessere Qualität.

Spiegel: Das zeigt, dass wir ein Umdenken im weltweiten Ernährungssystem brauchen. Den Bauern, auch und gerade im globalen Süden, muss die Möglichkeit gegeben werden, gesunde, nachhaltige und gerechte Nahrungsmittel wachsen zu lassen, die dem jeweiligen kulturellen Umfeld entsprechen. Damit das gelingt, sind politische Rahmenbedingungen notwendig. Um diese zu schaffen, engagiert sich MISEREOR gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort.

Das Interview führte Nina Brodbeck.

Nina Brodbeck arbeitet als Referentin für Kommunikation im MISEREOR-Büro Berlin. Davor betreute sie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Bündnis Entwicklung Hilft. Sie ist ausgebildete Redakteurin, Journalistin und Sachbuch-Autorin und unternahm als freie Journalistin zahlreiche Reportage-Reisen zum Beispiel nach Kambodscha, Burkina Faso, Elfenbeinküste und Indien.


Dieser Artikel erschien zuerst im MISEREOR-Magazin „frings.“ Das ganze Magazin können Sie hier kostenfrei bestellen >

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Nina Brodbeck arbeitet bei Misereor in der Abteilung Kommunikation.

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