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Getrübte Erwartungen: Warum Indigene weiter mit Landkonflikten rechnen müssen

Große Hoffnungen waren verbunden mit dem Amtsantritt Sonia Guajajaras als Ministerin des neu eingeführten Ministeriums für indigene Völker im Januar 2023. Fast zwei Jahre später fällt die Bilanz mit Blick auf die Beilegung der bestehenden Landkonflikte in Brasilien sehr nüchtern aus. Ausgerechnet während der Amtszeit der sozialdemokratischen Arbeiterpartei von Lula da Silva, die eigentlich für soziale Gerechtigkeit steht, könnte sich die Situation für Indigene noch weiter verschlechtern.

Nach den schweren Regenfällen und Überschwemmungen in Rio Grande do Sul Anfang dieses Jahres wurden auch Häuser indigener Gemeinden zerstört. Eine zusätzliche Herausforderung zu den bestehenden Landkonflikten, Ernährungsunsicherheit und Diskriminierungssituation. Da aufgrund des Klimawandels solche Extremwetter-Ereignisse in Zukunft häufiger auftreten könnten, beschloss eine Gemeinde, Häuser vorsorglich auf Stelzen wiederaufzubauen. © Ramos Görne/ Misereor
Nach den schweren Regenfällen und Überschwemmungen in Rio Grande do Sul Anfang dieses Jahres wurden auch Häuser indigener Gemeinden zerstört. Eine zusätzliche Herausforderung zu den bestehenden Landkonflikten, Ernährungsunsicherheit und Diskriminierungssituation. © Ramos Görne | Misereor

Die territoriale Rechtssicherheit indigener Völker in Brasilien lässt sehr zu wünschen übrig. Von den insgesamt 1.381 Gebieten, die von Indigenen beansprucht werden, wurden bislang 62% immer noch nicht demarkiert (d.h. physische Grenzziehung und Anerkennung). Somit wurde die in der brasilianischen Verfassung von 1988 festlegte Absicht, innerhalb von fünf Jahren, also bis 1993, alle Gebiete zu demarkieren, eklatant missachtet. Während der Amtszeit von Jair Bolsonaro wurden keinerlei indigene Territorien demarkiert.

Lula vertritt zwar eine andere politische Richtung als sein Amtsvorgänger Bolsonaro, der bereits während seines Wahlkampfs angekündigt hatte, „kein Zentimeter Land“ für Indigene freizumachen. In der Praxis vermag seine Regierung jedoch nicht die Schritte einzuleiten, die die Lebenssituation Indigener grundlegend verbessern würden. Es wurde letztes Jahr ein Ministerium für indigene Völker (Ministério dos Povos Indígenas – MPI) eingerichtet, mit der indigenen Ministerin Sonia Guajajara an der Spitze. Aufgrund dessen unzureichenden finanziellen Ausstattung und der mühsamen Strukturierung (erstmalige Einführung in der Geschichte Brasiliens) ist das Ministerium jedoch nur sehr begrenzt handlungsfähig. Unzureichende finanzielle und personelle Ressourcen hat auch die Indigenenschutzbehörde FUNAI, die ebenfalls von einer Indigenen – Joênia Wapixana – geführt wird.

Besonders erschwert wird die Umsetzung sinnvoller politischer Vorhaben durch die ungünstigen Mehrheitsverhältnisse im Kongress. Über 50% der Kongressmitglieder gehören der parlamentarischen Agrarfront an (aktuell 340 von insgesamt 594 Mandatsträger*innen) und sehen die Rechte Indigener entsprechend als nicht prioritär an. So ist die Verabschiedung des Gesetztes 14.701/2023, welches das Rechtskonstrukt des sogenannten „marco temporal“ („Stichtagregelung“) legitimiert, nicht verwunderlich. Dieses Rechtskonstrukt besagt, dass Indigene, die nicht beweisen konnten, dass sie zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Verfassung am 05.10.1988 aktiv das von ihnen beanspruchte Gebiet besetzten, kein Anrecht auf jenes Land haben. Die Regelung verkennt somit grundlegend die leidvolle und gewaltsame Vertreibungsgeschichte Indigener in Brasilien.

Indigene Schule im Bundesstaat Rio Grande do Sul, wo Kinder die Guarani-Sprache lernen können. © Ramos Görne/ Misereor
Indigene Schule im Bundesstaat Rio Grande do Sul, wo Kinder die Guarani-Sprache lernen können. © Ramos Görne | Misereor

Untergrabung rechtlicher Rahmenbedingungen zum Schutz indigener Völker

Besonders eklatant ist, dass das Gesetz just in demselben Zeitraum verabschiedet wurde, indem das Oberste Gerichtshof STF den „marco temporal“ für verfassungswidrig erklärte. Obwohl die oberste juristische Instanz des Landes diesen entscheidenden Beschluss fasste – der noch nicht offiziell veröffentlicht, sondern nur bekanntgegeben wurde – besteht immer noch die große Gefahr, dass diese Regelung umgesetzt wird. Möglich werden könnte dies durch den vom STF-Richter Gilmar Mendes einberufenen Vermittlungsausschuss („mesa de conciliação“). Innerhalb des STF ist dieser Richter zuständiger Berichterstatter für die Fragen zum „marco temporal“ und ihm gegenüber positiv eingestellt. Eigentlich sollte die Repräsentation aller beteiligter Stakeholder am Ausschuss gewährleistet sein. Faktisch wurden zum Verhandlungstisch jene Gouverneure als Vertreter*innen der Bundesstaaten eingeladen, die die Regelung befürworten, darunter z.B. der Gouverneur von Mato Grosso do Sul, Eduardo Riedel.

Zu den Widerstandsstrategien indigener Gemeinden in Brasilien gehört das Anfertigen traditioneller Handwerkskunst, die mit Stolz ausstellt und vermarktet wird. © Ramos Görne/ Misereor
Zu den Widerstandsstrategien indigener Gemeinden in Brasilien gehört das Anfertigen traditioneller Handwerkskunst, die mit Stolz ausstellt und vermarktet wird. © Ramos Görne | Misereor

Die nationale Bewegung indigener Völker, APIB, die zu diesem Prozess eingeladen wurde, entschloss sich nach einiger Zeit aus diesem auszusteigen, da sie die dort diskutierten Forderungen als unvereinbar mit indigenen Interessen betrachtete. Daraufhin nominierte das MPI indigene Staatsfunktionäre (z.B. Indigene, die in der Behörde für indigene Gesundheit – SESAI – arbeiten), um im Ausschuss irgendeine Art indigener Repräsentation zu gewährleisten. Somit fiel das Ministerium der APIB auf erschütternder Art und Weise in den Rücken.

Selbst wenn das Inkrafttreten des „marco temporal“ über den Weg des Vermittlungsausschusses scheitern sollte, könnte es durch einen Verfassungsänderungsvorschlag (proposa de emenda constitucional – PEC) noch durchkommen. Für die Umsetzung dieses „Plan B“ haben rechtskonservative Abgeordnete mit der Ausarbeitung des PEC 48 bereits „vorgesorgt“. Das Beispiel des „marco temporal“ veranschaulicht, wie juristische und demokratische Entscheidungsprozesse in Brasilien untergraben und die Interessen ökonomischer Eliten über äußerst fragliche Umwege durchgesetzt werden können.

Autor*innen:
Matias Benno Rempel und Klenner Antonio da Silva – Regionalstelle von CIMI in Mato Grosso do Sul
Rosani Santiago und Valdevino Santiago – Regionalstelle der CPT in Mato Grosso do Sul
Madalena Ramos Görne – Projektreferentin für Brasilien bei Misereor e.V.


Die Arbeit von CIMI und CPT

CIMI ist die Fachstelle der brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB) für indigene Fragen. Zu den vielfältigen Wirkungslinien CIMIs gehören u. a. Rechtsberatung, Begleitung von laufenden Demarkierungsprozessen, Unterstützung von indigenen Mobilisierungsaktionen, Sichtbarmachung der Situation Indigener über Öffentlichkeitsarbeit sowie Beratung bei der Landnutzung. Von besonderer Bedeutung ist der jährlich von CIMI herausgebrachte Bericht „Gewalt gegen die Indigenen Völker Brasiliens“, dessen Zusammenfassung auch auf Deutsch erscheint.

Die CPT ist die kirchliche Fachstelle für Landfragen und unterstützt die brasilianische Landbevölkerung, darunter u. a. Agrarreformsiedler*innen, Kleibäuerinnen, Mitglieder indigener und traditioneller Gemeinden bezüglich der Themen der territorialen Rechtssicherheit und Ernährungssouveränität. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der CPT seit ihrem Gründungsmoment ist die Prävention und Bekämpfung sklavenähnlicher Arbeitsbeziehungen. Der jährlich von ihr herausgebrachte Bericht über die Landkonflikte in Brasilien – inkl. deutscher Zusammenfassung – wird als Referenzdokument in nationalen und internationalen Lobbyprozessen genutzt.



Indigene sind uns weit voraus

Wer die notwendige sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft erfolgreich vorantreiben will, sollte die Dinge ganzheitlich angehen. Davon ist Jörg Elbers, Misereor-Fachreferent für ländliche Entwicklung in Lateinamerika, überzeugt. Was darunter zu verstehen ist, erläutert er im Interview.

Jörg Elbers, Referent für ländliche Entwicklung in Südamerika, ist überzeugt, dass Indigene Völker mit ihrer Lebensweise zeigen, dass man in den Grenzen unseres Planeten leben kann. © Soteras | Misereor
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Lieferkettengesetz: Umsetzen statt Aussetzen!

Es war noch keine drei Wochen her, seit Robert Habeck beim Unternehmertag der BGA am 2. Oktober erklärt hatte, die Politik sei beim Lieferkettengesetz „bei guter Intention völlig falsch abgebogen“, und die Berichtspflichten mit der „Kettensäge“ sogar „wegbolzen“ wollte. Auf dem Arbeitgebertag am 22. Oktober legte Bundeskanzler Olaf Scholz nach und verkündete: „Das Lieferkettengesetz kommt weg“.

Lieferkettengesetz Umsetzen statt Aussetzen!

Wie zuvor Habeck buhlte auch Scholz um den Beifall seiner Gastgeber aus der Wirtschaftslobby – und löste eine Welle der Empörung in der eigenen Partei, in Gewerkschaften und Zivilgesellschaft aus. Und wie Habeck ruderte auch das Kanzleramt später zurück. Beide verwiesen auf die Ankündigung der Bundesregierung aus der „Wachstumsinitiative“, das EU-Lieferkettengesetz noch in dieser Legislaturperiode „bürokratiearm“ umzusetzen. In diesem Sinne, so Regierungssprecher Hebestreit, komme das deutsche Lieferkettengesetz weg.

Viel Aufregung um nichts?

Leider nicht. Denn die verbalen Entgleisungen von Kanzler und Vizekanzler befeuern Spekulationen und sorgen für ein Höchstmaß an Verunsicherung: Unternehmen fragen sich, ob es sich noch lohnt, Nachhaltigkeitsabteilungen für Menschenrechte, Umwelt und Klima aufzubauen. Und Betroffene fragen sich, was aus ihren Beschwerden bei der zuständigen BAFA-Behörde gegen Verstöße deutscher Unternehmen wird, wenn das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz „wegkommt“. Die Betroffenen haben einen Rechtsanspruch darauf, dass die Behörde Maßnahmen anordnet, um Menschenrechtsverletzungen abzustellen oder gegebenenfalls Sanktionen gegen die verantwortlichen Unternehmen verhängt.

Diese Unsicherheit bleibt, weil die zuständigen Bundesminister die Wachstumsinitiative völlig unterschiedlich interpretieren. So stellte die FDP Bundesarbeitsminister Hubertus Heil vor zwei Wochen ein Ultimatum, bis November ein Gesetz zur Aussetzung des Lieferkettengesetzes vorzulegen, obwohl in der Wachstumsinitiative von Aussetzung keine Rede ist. Wirtschaftsminister Robert Habeck fordert zwar keine Aussetzung (mehr), vertritt aber die Position, dass in der Übergangsphase die Sorgfaltspflichten nicht verpflichtend sein sollten. Faktisch käme dies einer Aussetzung des Gesetzes bis zum Inkrafttreten der EU-Lieferkettenrichtlinie im Juli 2027 sehr nahe. Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) und das Kanzleramt streben einen nahtlosen Übergang ohne Unterbrechung an, wie es auch der Text der Wachstumsinitiative nahelegt.

Handlungsempfehlungen für die wirksame Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Gesetz

Statt einer Aussetzung erwarten wir von der Bundesregierung die konsequente Umsetzung beschlossener Gesetze. Das heißt erstens, die Umsetzung des deutschen Lieferkettengesetzes und zweitens die Umsetzung der EU-Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) in deutsches Recht. Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie ist im BMAS bereits in Arbeit. Für die Initiative Lieferkettengesetz ist dabei entscheidend, dass dies nicht nur „bürokratiearm“, sondern vor allem effektiv im Sinne der Betroffenen und EU-rechtskonform geschieht. Das heißt zum Beispiel:

  • Die Bundesregierung darf nicht gegen das Rückschrittsverbot in Art. 1 Abs. 2 der EU-Richtlinie verstoßen, also das auf nationaler Ebene bereits bestehende Schutzniveau nicht absenken. Die Ankündigung der Wachstumsinitiative, die Zahl der erfassten Unternehmen auf ein Drittel zu reduzieren, ist daher rechtswidrig.
  • Auch andere Stärken des deutschen Gesetzes gegenüber der EU-Richtlinie müssen daher erhalten bleiben, etwa der Ausschluss von öffentlichen Aufträgen für Unternehmen, die ihre Sorgfaltspflichten massiv verletzen.
  • Auch die Fortschritte der EU-Lieferkettenrichtlinie müssen im Sinne der Betroffenen möglichst effektiv umgesetzt werden. Dies gilt zum Beispiel für die Regelungen zur zivilrechtlichen Haftung, zur effektiven Beteiligung der Betroffenen an allen Sorgfaltsmaßnahmen, zur Wiedergutmachung als Teil der Sorgfaltspflicht, zur fairen Beschaffung und Vertragsgestaltung insbesondere mit kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), zu umweltbezogenen Sorgfaltspflichten und zur Umsetzung von Klimaplänen.
  • Schließlich muss die Bundesregierung bei der Umsetzung der EU-Lieferkettenrichtlinie aus den bisherigen Erfahrungen mit dem deutschen Gesetz lernen. Das heißt zum Beispiel: mehr Transparenz über Beschwerden und deren Bearbeitung beim BAFA und eine stärkere Beteiligung der Beschwerdeführenden am gesamten Verfahren. Maßnahmen können kaum wirksam sein, wenn sie an den Interessen der Betroffenen vorbeigehen.

Statt über Aussetzung zu spekulieren, sollte sich die Bundesregierung auf diese Maßnahmen konzentrieren und nach konstruktiven Lösungen suchen. Gemeinsam mit der Initiative Lieferkettengesetz, ECCHR, Brot für die Welt, Germanwatch, dem Deutschen Institut für Menschenrechte und medico veranstaltet Misereor deshalb am 13. November in Berlin eine Fachtagung mit öffentlicher Podiumsdiskussion. Alle, denen der Schutz von Menschenrechten, Umwelt und Klima in der Wirtschaft am Herzen liegt, sind herzlich eingeladen.

Energie global. Gerecht. Gestalten!

Misereor hat zum Jahresempfang nach Berlin geladen, um – wie Misereor Hauptgeschäftsführer Andreas Frick es in seiner Begrüßung bezeichnete – eine Frage mit zentraler Bedeutung zu diskutieren: Wie gelingt uns der Ausstieg aus den fossilen Energien wie Gas, Öl und Kohle weltweit und gerecht? Der Ausstieg ist beschlossene Sache. Auf der letzten UN-Weltklimakonferenz im Vorjahr haben sich die Staaten darauf geeinigt. Doch wie er umgesetzt werden soll und bis wann final, da gehen die Meinungen bisher auseinander. Diese Fragen werden deshalb auch Thema der nächsten Weltklimakonferenz im November sein.

Misereor-Jahresempfang 2024 © Sebastian Höhn
© Sebastian Höhn

Für Hamira Kobusingye, Klimaaktivistin und Misereor-Projektpartnerin aus Uganda, wäre aber genau solch ein verbindlicher Tag X wichtig und überfällig:

„Das Ende der fossilen Brennstoffe war schon vor Jahren notwendig. Wir müssen jetzt handeln und so schnell wie möglich auf erneuerbare Energien umsteigen. Denn das Klima, die Umwelt und die Menschen leiden heute unter der Förderung und Nutzung von Öl, Gas und Kohle. Und ich bin überzeugt: Wenn die Politik ein festes Datum für das Ende festlegt, wenn wir klare Daten haben, wann wir die Förderung fossiler Energieträger beenden, dann wird es ausreichend Investitionen in erneuerbare Energien geben. Wenn es Vorschriften für Investitionen gibt, dann werden die Unternehmen und Staaten sehr schnell umdenken und auf erneuerbare Energien wie Wind und Sonne umsteigen.“

Misereor-Jahresempfang 2024 © Sebastian Höhn
Hamira Kobusingye, Klimaaktivistin und Misereor-Projektpartnerin aus Uganda © Sebastian Höhn

Viele afrikanische Länder verfügen über reiche natürliche Ressourcen wie Sonne und Wind, die für die Erzeugung erneuerbarer Energien genutzt werden können. Sie sind eine nachhaltige und umweltfreundliche Alternative, die langfristig die Energiesicherheit für alle gewährleisten kann.

Dennoch erfahren fossile Projekte eine Renaissance auf dem afrikanischen Kontinent, obwohl der Abbau von Öl, Gas und Kohle verheerende Auswirkungen auf die Menschen vor Ort hat, den Klimawandel vorantreibt und eine zukunftsfähige, nachhaltige Entwicklung behindern.

Welche Maßnahmen sind also notwendig, um den Übergang zu einer nachhaltigen Energiezukunft zu fördern?

Andreas Jung, Mitglied im Bundestag und klima- und energiepolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, verspürt eine starke Verantwortung Klimaschutz voranzubringen und sieht Potenziale in der Wirtschaft:

„Wir stehen in der Verantwortung, auch in einer christlichen Verantwortung, Klimaschutz zu fördern. Aber wir stehen auch in einem Wettbewerb. Und wir müssen schauen, dass wir nicht Klimaschutz machen und wirtschaftlich zurückfallen. Wir müssen beides zusammenbringen: Klimaschutz angehen und Industriestaat bleiben.“

Misereor-Jahresempfang 2024 © Sebastian Höhn
Andreas Jung, Mitglied im Bundestag und klima- und energiepolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion © Sebastian Höhn

„Mit Blick darauf, dass die Industriestaaten mit ihren historischen und aktuellen CO2-Emissionen den Klimawandel verursacht haben und weiter befeuern, tun wir vermutlich noch nicht genug. Aber Ziele müssen auch in praktische Politik umgesetzt werden. In den letzten Jahren hat Deutschland eine drängende und ambitionierte Rolle in der internationalen Klimapolitik eingenommen. Jetzt darf im Bereich Klimaschutz und Klimaanpassung also nicht gespart werden. Das wäre kurzsichtig und unglaubwürdig. Dann brauchen wir auch nicht mehr zu Weltklimakonferenzen zu fahren.“

Kathrin Schroeder, Abteilungsleiterin Politik und Globale Zukunftsfragen bei Misereor, kennt aus ihrer beruflichen Erfahrung die Folgen des fortgesetzten Fokus auf fossile Brennstoffe, aber auch die Lösungsansätze, die nötig sind:

„In vielen Ländern Afrikas bedeutet die Förderung von Öl, Gas oder Kohle für unzählige Menschen extreme Armut. Denn sie zerstört ihre natürlichen Lebensgrundlagen. Das ausbeuterische Energiesystem sabotiert Entwicklungsziele, verschärft die Klimakrise und heizt Konflikte an.“

Misereor-Jahresempfang 2024 © Sebastian Höhn
Kathrin Schroeder, Abteilungsleiterin Politik und Globale Zukunftsfragen bei Misereor © Sebastian Höhn

„Wenn wir über das Thema Energiewende und nachhaltige Energiezukunft sprechen, gehört auch dazu, dass viele Menschen weltweit noch gar keinen Zugang zu Energie für z.B. Strom und zum Kochen haben. Fossile Brennstoffe bieten hier keine guten Lösungen, weil es kleinteilige Ansätze braucht, die auch in abgelegenen, ländlichen Gebieten funktionieren. Erneuerbare Technologien wie Solarenergie sind hier klar im Vorteil: praktikabel, dezentral und auf kleiner, lokaler Ebene einsetzbar, klimaneutral, gesundheitsfördernd. Doch hier gibt es bisher kaum Kredit- und Fördermöglichkeiten, so dass die Umsetzung teuer und schwieriger ist. Solarenergie darf aber keine Technologie für Reiche sein. Alle Menschen müssen davon profitieren können.“

Norbert Gorißen, Beauftragter für Klimaaußenpolitik und Stellvertretender Sonderbeauftragter des Auswärtigen Amts für internationale Klimapolitik, weiß, dass neue finanzielle Spielräume geschaffen werden müssen, um die Energiezukunft nachhaltig zu gestalten:

„Der globale Süden braucht finanzielle Unterstützung für den Klimaschutz und wir haben die Verpflichtung zur Klimafinanzierung. Dafür müssen wir starke Partnerschaften aufbauen, von denen beide Seiten profitieren.“

Misereor-Jahresempfang 2024 © Sebastian Höhn
Norbert Gorißen, Beauftragter für Klimaaußenpolitik und Stellvertretender Sonderbeauftragter des Auswärtigen Amts für internationale Klimapolitik © Sebastian Höhn

„Es stimmt. Noch sind die Kapitalkosten von Solarenergie sehr hoch, wodurch diese Technologie nicht für alle attraktiv ist. Wir müssen also Anreize schaffen, die Investitionen in den erneuerbaren Sektor unterstützen. Auch andere Finanzierungsmodelle müssen entwickelt werden.“

Auch Hamira Kobusingye hebt die Bedeutung von Partnerschaften hervor und betont die Notwendigkeit, Energiekonsum insgesamt zu reduzieren:

„Die Probleme mit dem Ausstiegsprozess aus den fossilen Brennstoffen derzeit zeigen uns, dass wir den weltweiten Energieverbrauch dringend reduzieren müssen. Nur so werden wir in der Lage sein, die Investitionen in fossile Brennstoffe und deren Ausbeutung zu reduzieren. Ohne einen geringeren Bedarf an Energie werden wir es nicht schaffen. Und wir brauchen starke, gleichberechtige und verlässliche Partnerschaften für die Energiewende. Wir können es nicht allein schaffen. Aktivist*innen können es nicht allein. Entscheidungsträger*innen und Politiker*innen können es nicht allein. Bürger*innen können es nicht allein. Staaten können es nicht allein. Veränderung geht nur gemeinsam mit allen.“

Aus Ihrer Perspektive: Wann wird das Ende der fossilen Energien sein?

Misereor-Jahresempfang 2024 © Sebastian Höhn

Norbert Gorißen: „Die Frage des Zeitpunkts für den Ausstieg ist keine technische Frage. Wenn man wollte, dann ginge das schnell. Es ist eine politische und eine Systemfrage.

Aber: Wenn wir uns weiterhin an dem 1,5 °C-Ziel orientieren und dieses im Blick behalten wollen, dann müssen wir die globalen Emissionen bis 2030 halbieren. Und das schaffen wir nicht mit fossilen Brennstoffen.“

Kathrin Schroeder: „Für einen raschen Ausstieg müssen die politischen Entscheidungsträger*innen die richtigen Weichen stellen und z.B. Subventionen im fossilen Energiesektor stoppen.

Misereor-Jahresempfang 2024 © Sebastian Höhn

Dann würde es sicherlich sehr schnell gehen.“

Misereor-Jahresempfang 2024 © Sebastian Höhn

Andreas Jung: „Fossile Energien werden dann keine Rolle mehr spielen, wenn klimafreundliche Alternativen zur Energiegewinnung wirtschaftlich überlegen sind. Und daran müssen wir arbeiten.“

Hamira Kobusingye: „Wir haben keine Zeit! Wir müssen jetzt handeln und wir müssen rasch handeln! Im Vordergrund unseres Handelns und unserer Investitionen sollten immer die Menschen und ihre Rechte und Lebensrealitäten stehen.“

Misereor-Jahresempfang 2024 © Sebastian Höhn

Bildrechte: Sebastian Höhn

Am Supermarktregal zum Personenschützer für Bauern werden – wie das?

Die Auswahl der Produkte, die wir in unseren Einkaufswagen packen, hat einen weitreichenden Einfluss z.B. auf eine ganze Bauernfamilie in Brasilien. Denn unser Konsum- und Kaufverhalten entscheidet mit, was die Bäuerinnen und Bauern weltweit anbauen. Daher können wir uns beim Einkauf auch dafür entscheiden, die Gesundheit von Landwirt*innen im Globalen Süden zu schützen – indem wir uns beispielsweise für Nahrungsmittel entscheiden, die ohne chemisch-synthetische Pestizide hergestellt werden. Laut einer neuen Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten (ÄSVB) erhöhen diese nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass Bauern und Bäuerinnen an Parkinson erkranken. Mit einer bedachten Produktwahl am Lebensmittelregal können Sie also ganz einfach zum „Personenschützer“ werden.

Pestizideinsatz in Indien: Die chemischen Düngermittel verursachen bereits während des Sprühens Husten, brennende Augen und Kopfschmerzen. © New Media Advocacy Project 
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Eine verlorene Zukunft: Das Leben afghanischer Frauen unter dem Taliban-Regime

Am 15. August 2024 jährte sich in Afghanistan zum dritten Mal die Machtübernahme der radikal-islamistischen Taliban. Damit begann eine Schreckensherrschaft, die sich vor allem gegen Frauen und Mädchen richtet. Sie dürfen nicht mehr über die sechste Klasse hinaus zur Schule gehen und sind gezwungen, zu Hause zu bleiben. Die Träume junger Mädchen, die Medienschaffende, Anwältinnen und Professorinnen werden wollten, wurden plötzlich zerstört. Zwei Projektpartnerinnen berichten über ihr Lebensgefühl in Afghanistan: Amira Shirin aus Afghanistan, aktuell in Deutschland, hat die Afghanin Ellaha Mirza befragt.

Seit der Rückkehr der Taliban hat sich insbesondere die Situation von Frauen und Mädchen verschlechtert; an vielen Orten dürfen sie sich nur noch verschleiert in der Öffentlichkeit zeigen (Symbolbild). © OASE Organization of Afghan Support for Education
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