Das Seebeben in Südindien und die folgende Flutwelle trafen die Menschen völlig unvorbereitet. Vor allem die Armen, die unmittelbar an der Küste leben, haben viele Opfer zu beklagen. Um ihnen beim Wiederaufbau ihrer Existenz zu helfen, hat MISEREOR verschiedene Projekte, u. a. zur Traumabewältigung und Rechtsberatung, gestartet. Hierbei erfährt das Hilfswerk vielfältige Unterstützung.
Vu Tu Hoas Augen werden immer noch feucht, wenn er auf seine letzte Reise als Länderreferent für MISEREOR zu sprechen kommt. „Nicht nur meine letzte, sondern auch meine schwerste“, sagt er. Seit 23 Jahren ist der gebürtige Vietnamese als Länderreferent in der Asienabteilung tätig – und jetzt, nach seiner letzte Reise vor der anstehenden Pensionierung, kann er das, was er sehen und erleben musste, immer noch nicht in Worte kleiden. „Über vieles mag ich noch nicht sprechen“, sagt er leise, „das war so schrecklich, da fehlen mir die richtigen Worte.“ Vu Tu Hoas letzte Reise führte ihn gemeinsam mit Gregor Meerpohl, dem MISEREOR-Spezialisten für Wiederaufbau, unmittelbar nach der Tsunami-Katastrophe zu den MISEREOR-Partnern nach Indonesien.
Reaktionen auf die Katastrophe
Am zweiten Weihnachtsfeiertag des letzten Jahres erreichen die ersten Meldungen von der Tsunami-Flut die deutschen Wohnzimmer. Trotz unklarer Informationslage wird schnell klar, dass von dieser Katastrophe viele Partner von MISEREOR in der Region betroffen sein werden. Referenten und Geschäftsführer telefonieren sich an diesem plötzlich gar nicht mehr so friedlichen Weihnachtsabend zusammen – was ist zu tun? Die Aachener Geschäftsstelle erwacht am nächsten Morgen schon früh – aus dem Urlaub herbeigeeilte Mitarbeiter sammeln Informationen und nehmen Kontakt zu den Partnern auf. Ein Krisenstab wird gebildet – zu diesem Zeitpunkt ahnt noch niemand das wahre Ausmaß der Flutwelle. Sind Kollegen in der Region unterwegs? Wie geht es den Partnern vor Ort? Telefone klingeln ununterbrochen – Pfarrer wollen für ihre Gottesdienstvorbereitung mehr zum Thema wissen, Journalisten suchen Informationen, Kontakte werden hergestellt. Ein Sonderfonds wird eingerichtet, um Partnerorganisationen schnell und unbürokratisch unterstützen zu können.
In den nächsten Tagen erweist sich die langjährige Netzwerk-Arbeit MISEREORs als unbezahlbar. Die Kontakte zu den Partnerorganisationen, zu Ordensangehörigen und Bischöfen ergeben ein vollständigeres Bild von der Katastrophe. Die Fragen nach dem richtigen Konzept für den langfristigen Wiederaufbau lassen sich jedoch aus der Ferne nur schwer entscheiden. Deshalb beschließt der Krisenstab, Experten in die Region zu schicken.
Indien
Indien-Referent Elmar Noe reist in die Küstenregion bei Madras. Er wird Zeuge der Hilfsbereitschaft, die die Menschen in der Region zusammenrücken lässt. So hat im indischen Tamil Nadu die Ordensgemeinschaft der DMI (Daughters of Mary Immaculate), ein langjähriger MISEREORPartner, direkt nach dem Seebeben mehr als 500 Ordenschwestern, Seminaristen und Freiwillige mobilisiert, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen, Tote zu bergen, Gräber zu schaufeln, provisorische Unterkünfte in Schulen, Kirchen und Konventen herzurichten, die Flutopfer medizinisch zu betreuen, sie mit Kleidung und Nahrungsmitteln zu versorgen.
Sri Lanka
Dr. Ulrich Dornberg ist zeitgleich in Sri Lanka unterwegs, er berichtet: „Die Inseln wurden mit voller Wucht getroffen. Die Wellen erreichten eine Höhe von über 10 Metern und drangen über Flüsse und Kanäle zum Teil über 5 Kilometer tief ins Landesinnere ein. Die Folgen sind vor allem für die Fischer verheerend: Hunderttausende wurden ihrer täglichen Einnahmen beraubt.“
Indonesien
In Indonesien ist die Situation zu diesem Zeitpunkt noch sehr unübersichtlich. Die von der Katastrophe besonders betroffene Region im Norden Sumatras ist wenig erschlossen. Später erst wird sich herausstellen, dass Indonesien mit Abstand die meisten Opfer zu beklagen hat, mehr als 200.000 Menschen. Am 13. Januar melden sich Gregor Meerpohl und Vu Tu Hoa. „Die Katastrophe hier hat apokalyptische Ausmaße. Es sind ganze Landstriche vollkommen zerstört. Auch jetzt, 17 Tage nach der Flut, werden hier immer noch 2.000 bis 3.000 Leichen pro Tag geborgen. So etwas habe ich noch nie gesehen“, berichtet Gregor Meerpohl mit stockender Stimme, und Vu Tu Hoa ergänzt: „Die Situation ist sehr viel dramatischer als wir uns gedacht haben, die Bilder im Fernsehen kann man überhaupt nicht vergleichen mit der Realität. Das hier ist ein Meer von Verwüstung, man sieht keinen Horizont mehr.“
Der Wiederaufbau beginnt
Mittlerweile haben die MISEREOR-Partnerorganisationen mit Unterstützung von MISEREOR eine ganze Reihe langfristiger Wiederaufbau-Projekte ins Leben gerufen. Neben dem Bau dauerhafter Übergangslager für die obdachlos gewordenen Menschen geht es um die psychologische Betreuung der traumatisierten Bevölkerung und die Schaffung neuer Einkommensmöglichkeiten. „Nicht nur die Fischer, sondern auch viele Kleinhändler stehen vor dem Nichts“, erklärt Elmar Noé. „Die Flut hat die Felder vieler Bauernfamilien versalzen und die nächsten Ernten zerstört. Witwen haben mit ihrem Mann auch den Brotverdiener der Familie verloren.“ Wie erhalten Fischer ein neues Boot, woher bekommen die Kleinbauern notwendiges Saatgut und Werkzeug, wie gelingt es den kleinen Händlern, wieder eine Existenz aufzubauen, so dass es wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag gibt? Viele Fragen lassen sich nur im Dialog mit den Betroffenen beantworten. Die Unterbringung von Waisenkindern ist ein weiteres wichtiges Projekt: „Wir wollen keinesfalls, dass die Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen werden. Wir überlegen stattdessen, ob es möglich ist, Witwen auszubilden und mit ihnen Wohngruppen für Waisenkinder aufzubauen.“
Land- und Rechtssicherheit
In Indonesien erreicht der MISEREOR-Partner UPC (Urban Poor Consortium) durch breit angelegte Hilfsprogramme mehr als 50.000 Menschen in Banda Aceh und anderen Gebieten im Norden Sumatras. Für Gregor Meerpohl ist es ein wichtiger Schritt bei der Traumabewältigung, die Menschen wieder zur Normalität zu bringen, ihnen Arbeitzu geben, sie an den Aufräumarbeiten zu beteiligen. Die Einbindung der Betroffenen ist das oberste Gebot aller jetzt anstehenden Anstrengungen. „Viele der Überlebenden können nicht nachweisen, dass ihnen das Grundstück gehörte, auf dem sie ihr Haus gebaut hatten. Eine ganz wichtige und grundlegende Frage ist deshalb, wie wir für die Überlebenden Rechtssicherheit in der Landfrage schaffen können. In einem Dorf, das ich besucht habe, wohnten ursprünglich 4.000 Menschen. 480 von ihnen leben noch. Keiner der Überlebenden geht im Moment in das zerstörte Dorf zurück. Stattdessen baut die Regierung zentrale Camps auf. Viel sinnvoller wäre es, den Menschen zu helfen, in ihre Gebiete zurückzukehren. Wer wird in ihrer Abwesenheit ihr Land an sich reißen? Einige unserer Partner befürchten, dass Regierung und Militär die ungeklärte Landfrage zu ihrem Vorteil ausnutzen werden.“ Welche Dokumente brauchen die Überlebenden, um Entschädigungszahlungen zu bekommen? Können sie zu ihren Grundstücken zurückkehren? Wo können sie alternativ ein neues Leben aufbauen? Mit diesen Fragen befasst sich im Moment auch der MISEREOR-Partner NAFSO (National Fisheries Solidarity) in Sri Lanka. Auch in Indien ist die Landfrage drängend. Es gibt eine staatliche Verordnung, die aus Sicherheitsgründen ein Bauverbot von bis zu 300–500 Metern ins Landesinnere vorsieht. Viele Fischerfamilien haben diese Vorschrift missachtet. „Sie wollen ihr Boot im Blick haben. Deshalb wohnen sie so nah wie möglich am Wasser“, erklärt MISEREOR-Referent Elmar Noé. Wenn die Regierung beim Wiederaufbau auf der Einhaltung dieser Sicherheitszone besteht, haben Hunderttausende keinen Ort, an den sie zurückkehren können. Die Klärung der Rechts- und Entschädigungsfragen kann Jahre dauern. Das Leben der Menschen aber muss jetzt weiter gehen: Sie brauchen neue Lebensperspektiven und neue Einkommenschancen.
Selbsthilfekräfte stärken
Die Asien-Spezialisten von MISEREOR sind schon lange wieder zurück. Aber das Erlebte und Gesehene geht ihnen täglich immer wieder durch den Kopf. Auch das Engagement in Deutschland zeigt Auswirkungen. Viele wollen helfen, es entstehen
neue Partnerschaften für die betroffene Region – mit Schulen, Kommunen, Organisationen. Vu Tu Hoa und die anderen Referenten werden noch oft von ihren Erfahrungen erzählen und die Arbeit von MISEREOR und seinen Partnerorganisationen
erläutern. In einer Einschätzung sind alle Referenten derselben Meinung: „Wir dürfen unsere Partner nicht im Stich lassen, wenn die unmittelbare Katastrophenhilfe ihre Aufgabe erfüllt hat. Auch in den kommenden Jahren werden die Menschen auf unsere Unterstützung und Spenden angewiesen sein.“