Es gibt wenig Texte, die so lustig geschrieben sind, dass der Leser laut auflachen muss. Es gibt auch wenig Fotos, die so aufgenommen sind, dass der Betrachter unwillkürlich nach der Tischkante greift: um sich festzuhalten. Wolfgang Müllers Bildband „mingong: Die Suche nach dem Glück“ enthält aber ein solches: Die Aufnahme der nur an dünnen Seilen über der Tiefe hängenden Fensterputzer.
Das Fotoprojekt über chinesische Wanderarbeiter, aus dem der Bildband hervorging, führte Müller in südchinesische Spielzeugfabriken und nordchinesische Kohlewäschereien, in Müllhalden am Stadtrand und auf Büroturmdächer des Pekinger Central Business District. Hier musste er seinen Übersetzer bitten, sich bei ihm auf die Fersen zu setzen, damit er beim Fotografieren der Fensterputzer nicht selbst vorne über in die Kante kippte.
Aber das war noch nicht einmal die lebensgefährlichste Situation, in die sich Müller für seine Bilder brachte. Am gefährlichsten wurde es, als er zwei Müllsammlern, der eine am Lenker des mit Elektromotor angetriebenen Last-Dreirads, der andere hoch oben auf dem auf der Ladefläche aufgeschichteten Stapel Holzabfälle thronend, folgen wollte.
Sein Übersetzer, der einen geliehenen Motorroller fuhr, hatte vom Fahren nämlich keine Ahnung, ganz abgesehen von einem Führerschein. Die beiden Müllsammler dagegen hatten es sehr eilig, weil sie sonst an der Müllsammelstelle so lange anstehen müssen: die rasende Fahrt durch den abendlichen Stossverkehr war wirklich halsbrecherisch.
Andererseits ist es nicht nur die drohende Lebensgefahr, die einen davon abhält, das zu sehen, was Müller fotografiert hat. Über einen Zeitraum von sechs Jahren hinweg verbrachte der Berliner Fotograf insgesamt dreizehn Monate in China. So lange brauchte es, um einen sehr persönlichen Einblick in die Arbeit und das Leben von vielleicht 20 der 200 Millionen Chinesinnen und Chinesen zu bekommen, die auf der Suche nach dem Glück ihre alte Heimat verlassen haben und allenfalls ein Mal im Jahr, zum traditionellen Frühlingsfest, dorthin zurückkehren können.
Das besondere an mingong ist, dass es Wolfgang Müller gelang, Wanderarbeiter auch auf dieser Heimreise fotografisch zu begleiten. Nur dadurch ist es ihm möglich, die Zerrissenheit der Wanderarbeiter zwischen ihrer „alten Heimat“ und der Arbeit in der Stadt darzustellen. Denn die alte Heimat – hier leben die auf ihre finanziellen Unterstützung angewiesenen Eltern, nur hier können ihre Kinder die Schule besuchen, nur hier zahlt die rudimentäre Krankenversicherung – spielt im Leben aller chinesischen Wanderarbeiter weiterhin eine so wichtige Rolle, dass jedes nur auf Arbeit und das Leben in der Stadt beschränkte Porträt unvollständig bliebe.
Und eine weitere Besonderheit unterscheidet mingong von allen anderen Bildbänden oder Fotodokumentationen: Die Wanderarbeiter haben zumindest ihre Arbeitskraft, die sie verkaufen können – beziehungsweise billig verkaufen müssen. Aber wie es Kranken und Behinderten geht, die keine Arbeitskraft zu verkaufen haben, wird von Müllers Kamera ebenfalls nicht übersehen. Mit einigen wenigen Fotos von staublungenkranken Halbedelsteinschleifern aus Sichuan und von einem an Kinderlähmung leidenden Bettler aus Hunan wird auch dieses Thema angerissen. Obwohl es Müller auf beeindruckende Weise gelingt, die Würde aller von ihm fotografierten Menschen, ganz unabhängig von deren unwürdigen Lebens- und Arbeitsumständen, zu wahren und darzustellen, wird doch deutlich, wie sehr diesen Menschen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und vor was für einem Abgrund sie stehen. Der ist so tief, dass einem glatt noch einmal schwindlig werden könnte.