Jedes Jahr am 30. August gedenkt man den „Internationalen Tag der Verschwundenen“. Hiermit gewähre ich euch einen Einblick, was das überhaupt hier für die Menschen bedeutet und wie verheerend und schmerzhaft diese Situation hier in Mexiko ist.
Bereit machen für den Marsch!
Dieses Jahr am Samstag, den 30. August 2014, haben sich verschiedene Menschenrechtsorganisationen in Mexiko-Stadt zusammengetan und einen (Protest-)Marsch zu Ehren dieses Tages veranstaltet. Natürlich war meine Organisation (Centro ProDH) auch ein Organisator dieser Veranstaltung, bzw. um genauer zu sein: die Abteilung „Kommunikation und Analyse“ ist bei uns dafür hauptsächlich zuständig.
Somit versammelten wir uns alle am Samstag frühabends am „Estela de Luz„, einem modernen Monument am Eingang des Parkes Chapultepec. An ebendiesem Eingang sind auch verschiedene Plaketten in den Boden eingelassen, die die Geschichte von einigen Verschwundenen in ganz Mexiko erzählen.
Was mich doch gewundert hat, ist, dass obwohl es kein Arbeitstag war und obwohl einige von uns an diesem Samstag vormittag (inklusive mir) arbeiten mussten, doch fast jeder aus meiner Organisation anwesend war. Die anderen Anwesenden bestanden aus weiteren Organisationen und zahlreichen Familienangehörigen sowie denFreunden der derzeit aktuell noch Verschwundenen.
Tot oder lebendig?
Nachdem wir uns organisiert hatten, fing dieser durchaus sehr emotionale Marsch an. Wir waren dabei mit Bannern, Kerzen und Fotos der Verschwundenen bestückt. Der strömende Regen, der typisch für die derzeitige Regenzeit ist, hat keinen einzigen davon abgehalten, seinen Marsch zu unterbrechen. Gefühlsmäßig konnte man in diesem Marsch sehr viel erkennen: Wut und Trauer. Doch was mich am meisten berührt hat, ist die Stärke so vieler Menschen und ihr Wille dennoch weiterzukämpfen und nach Gerechtigkeit zu suchen. Bis heute bewegen mich diese Bilder immer noch! Die Blicke in den Augen dieser Menschen, die einfach nicht wissen, wo ihre Liebsten sind.
Während des Marschs gab es zudem bestimmte Schreie bzw. Ausrufe, die immer wieder ertönten. Dabei stimmt eine/-r den Ausruf an und die Masse antwortet, mit harter Stimme. Einige dieser Ausrufe sind:
– „Es indispensable,….y castigo a los culpables“ = „Es ist unabdingbar, (wir wollen) die Bestrafung der Täter“
– „Qué queremos?“- „JUSTICIA“ = „Was wollen wir?“ – (Antwort) „GERECHTIGKEIT“
„Cuándo?“ – „Ahora“ =“Wann?“ – (Antwort) „Jetzt!“
– „Hija, escucha! tu madre está aquí en la lucha!“ =“Tochter, höre zu! deine Mutter ist hier im Kampf!“
„Padre, escucha! tu hijo está aquí en la lucha!“ = „Vater, höre zu! dein Sohn ist hier im Kampf!“
Dieser Ausruf ging mir dann doch ganz besonders in die Knochen: Es spiegelt zwar sehr gut den Kampfgeist der Angehörigen wider, dennoch zeigt es auch, dass das Phänomen des Verschwindens, das kein Alter und keine Rolle scheut: Es sind Mütter, Großmütter, Vätter, Söhne, Töchter,…einfach alle! Doch der Ausruf, der mich dann endgültig in Trance und zum Schweigen gebracht hat, war: „Dónde están, dónde están nuestros hijos?“ (=“Wo sind, wo sind unsere Kinder?). Ich, die nicht einmal Kinder hat, konnte da sehr gut mifühlen.
Wie ist das dann erst recht für die anderen bei dem Marsch, die Kinder haben und die vermutlich tagtäglich um ihr Kind bangen müssen? Wie muss es dann erst recht sein, für diejenigen, deren Kinder seit Jahren verschwunden sind und von denen man einfach nicht weiß, wo sie sind? Ob tot oder lebendig?
Endhaltestelle
Immer wieder diese Ausrufe schreiend, ging der Marsch weiter, vorbei am Ángel de la Independencia, und der erste Stop wurde am Senatshaus der Republik gemacht. Dort wurden einige Reden gehalten und dann ging es auch schon weiter, über die Paseo de La Reforma, einer der wichtigsten Hauptstraßen in Mexiko-Stadt, zur Endhaltestelle: PGR (Procuradoría General de la República), eine Instanz vergleichbar mit der Generalstaatsanwaltschaft. Dort wurden die Kerzen aufgestellt, Fliegelichter in die Höhe gelassen, Reden gehalten und ja sogar eine riesige Videoprojektion gab es an einer flachen, hellen Fassade vom Sitz der Generalstaatsanwaltschaft. Ich vergleiche diesen letzten Moment ab und zu mit einer (deutschen) Beerdigung: Der Anlass des Zusammentreffens ist zwar ein unendlich trauriger Anlass, dennoch war es sehr schön und emotional aufgebaut.
Kurzer Exkurs: Phänomen des Verschwindens in Mexiko
1. Geschichte
Zuallererst möchte ich hier betonen, dass es wirklich um die Verschwundenen geht, also die auch also solche identifiziert und klassifiziert sind. Es handelt sich also nicht (zum Beispiel) um Angehörige die ausgerissen sind bzw. von zuhause weggelaufen sind.
Das große Massenverschwinden begann in Mexiko in den 60er Jahren. Es setzte sich fort bis in die 80er Jahre. Dies war generell eine Zeit im lateinamerikanischen Raum wo Militärdiktaturen herrschten. Der Zusammenhang wie folgt: wenn man hier von „Verschwundenen“ redet, dann heißt das meistens, dass man entweder vom Militär oder von der Marine entführt worden ist und danach ward man nie wieder gesehen. Einige Überlebende sprechen von Folter und Mord, unbekannte Gräber, heimliche Gefängnisse oder Leichenverbrennung. Dieser Krieg nennt man in Mexiko „Guerra Sucia“, also der „Dreckige Krieg“. Das markanteste Ereignis hiervon war der Massaker am 2. Oktober 1968 wo eine Demonstration von hunderten von Studenten im Bundestaat von Mexiko niedergeschlagen worden sind. Hierüber gibt es ein berühmtes Buch „La noche de Tlatelolco“ von Elena Poniatowska, einer der bekanntesten Schrifstellerinnen und Journalistinnen Mexikos.
Von der Anzahl der Verschwundenen , sprechen wir hier von Tausenden über Tausenden. Leider ist dieses Phänomen mit den letzten Regierungen des Landes nicht zurückgegangen. Eine andere Art des Verschwindens ist auch, dass man gewaltsam in Drogenkartelle hinein-entführt wird. Da an (leider!) vielen verschiedenen Schnittstellen, die Drogenindustrie und die Exekutive der Regierung zusammenkommen, kommt dies allerdings dann meines Erachtens auf dasselbe hinaus.
2. Sprache
An der Routine der Ausrufe vom Marsch merkt man, wie sehr die Bevölkerung von ihren Verschwundenen gebrandmarkt und wie präsent doch dieses Thema ist. Nicht zuletzt im Sprachgebrauch, denn Sprache beudetet Vermittlung der Kultur, merkt man auch wie präsent es ist. Im Deutschen spricht man einfach von „Verschwundenen“ und im Englischen einfach von „Disappeared“. Doch im (lateinamerikanischem) Spanischen unterscheidet man zwischen „desaparición forzada“ (erzwungenes Verschwinden) und „desaparición involuntaria“ (unfreiwilliges Verschwinden). Jetzt könnte man meinen, dass beide Formen ein „unfrewilliges“ Verschwinden bedeuten, aber nein, der erste Begriff bezieht sich nur auf die Verschwundenen, verursacht von den exekutiven Instanzen der Regierung!
Zum Schluss, lässt sich sagen: Die eigentlichen Opfer des Massenphänomens des Verschwindens sind eigentlich die Angehörigen, die zurückbleiben!
Oh Mann, was für eine Tagesschau-Sendung heute. Gleich zwei Einsatzländer in den Nachrichten. „Hagupit“ auf den Philippinen und dann die schrecklichen Nachrichten über die 43 Studenten in Mexiko.
Es ist doch unfassbar, dass heutzutage immer noch Menschen, wie vom Erdboden verschluckt, verschwinden.
Bin gespannt auf Teil 2!
Liebe Kely,
ein toller Eintrag. Das ist wirklich unglaublich, was dort schon seit Jahrzehnten vor sich geht. Man hört das immer wieder im Radio. So auch jetzt die Sache mit den 40 verschwundenen Studenten. Aber das ist für uns, die wir in einem funktionierenden Rechtsstaat wohnen, doch sehr weit weg. Viel einfacher, sich in die Situation hinein zu denken ist dein Blickwinkel. Nämlich der der Hinterbliebenen. Wie furchtbar muss das sein, ein Familienmitglied zu vermissen und überhaupt nicht zu wissen, was passiert ist. Und im Grunde auch nie darauf hoffen darf, es zu erfahren. Das ist dir sehr gut gelungen.
LG aus Aachen, Uta