Die Kolumbianerinnen und Kolumbianer haben in der Volksabstimmung am 2. Oktober den zwischen der Regierung und den FARC-Rebellen ausgehandelten Friedensvertrag abgelehnt – sehr überraschend und denkbar knapp. Wie konnte das passieren? Was bedeutet das für die Zukunft des Landes? Und wie könnte sich die Verleihung des Friedensnobelpreises an den Staatspräsidenten Juan Manuel Santos auswirken?
Am Abend des 2. Oktobers, dem Tag des Friedensreferendums, war ich zu Besuch auf einem Kindergeburtstag im kleinen Dörfchen El Rosario, als sich plötzlich die Nachricht vom Sieg des Nein-Lagers verbreitete. Während die kleinen Kinder fröhlich weitertanzten, herrschte bei den danebenstehenden Eltern Fassungslosigkeit. Als nach einigen quälenden Minuten feststand, dass das Resultat endgültig ist und sich damit die Hoffnung auf einen „Last-Minute-Erfolg“ des Ja-Lagers zerschlagen hatte, schaute man einander ratlos an und rang verzweifelt nach Erklärungen. Analysten hatten zuvor das Ja-Lager um Präsident Juan Manuel Santos deutlich im Vorteil gesehen. Doch nur eine hauchdünne Minderheit von 49,79% machte letztlich ihr Kreuz bei „Ja“. Wie konnte das passieren?
In den Tagen nach dem Referendum hatte ich vielen Freunden und Kollegen diese Frage gestellt und musste feststellen, dass es auf diese Frage keine einfachen Antworten gibt. Den einen entscheidenden Faktor, der die Abstimmung zugunsten des Nein-Lagers entschieden hat, gibt es nicht. Viele Erklärungsversuche sind erst im Zusammenhang mit anderen stichhaltig, sodass es sehr schwer fällt, den Überblick zu behalten. Ich möchte versuchen, im Folgenden ein paar wichtige Punkte für die Ablehnung des Friedensvertrages darzustellen, ohne den Anspruch auf eine vollständige Erklärung erheben zu wollen.
- Beim Blick auf die Abstimmungsergebnisse in den verschiedenen Provinzen fällt auf, dass die vom Konflikt mit den FARC-Rebellen besonders betroffenen „Departamentos“ (vergleichbar mit den deutschen Bundesstaaten) allesamt für den Friedensvertrag gestimmt haben. So auch die Provinz Córdoba, in der ich momentan lebe und arbeite. In diesen Regionen ist die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden also besonders groß. Und auch die Bereitschaft zur Versöhnung ist in diesen Departamentos erheblich größer. Ein herausragendes Beispiel ist die Gemeinde Bojaya, in der vor 14 Jahren 119 in einer Kirche schutzsuchende Zivilisten von FARC-Rebellen massakriert wurden. Dort stimmten 96% für das Friedensabkommen.
- Die populistische Nein-Kampagne des polarisierenden Ex-Präsidenten Álvaro Uribe war offensichtlich erfolgreich. Uribe, als politischer Hardliner bekannt, hatte in seiner Amtszeit zwischen 2002 und 2010 sicherheitspolitische Erfolge vorzuweisen. Mit großer militärischer Härte ließ er gegen die FARC-Rebellen vorgehen, die daraufhin empfindliche Verluste hinnehmen mussten. Aus der Sicht Uribes ist die FARC heute viel zu geschwächt, als dass man ihr mit solch weitreichenden Zugeständnissen wie in dem Friedensvertrag entgegenkommen dürfe. Der Ex-Präsident hat immer noch viele Anhänger, die ihm bis heute dankbar sind, sicher auf den Fernstraßen des Landes unterwegs sein zu können.
- In seiner Kampagne gegen das Friedensabkommen schürte Uribe Ängste und bediente sich auch offensichtlicher Lügen. So malte er ein Szenario, in dem durch die angestrebte politische Beteiligung der linken FARC deren Chef „Timochenko“ kolumbianischer Präsident werden könne. Dadurch erhielte der linke „Castro-Chavismus“ Einzug ins Land. Als mahnendes Beispiel führte Uribe gerne das unbeliebte Nachbarland Venezuela an. Auch mutmaßte er über Steuererhöhungen, die angeblich im Zusammenhang mit den Demobilisierungsmaßnahmen der FARC zu erwarten seien. Zwar versicherte auch die Nein-Kampagne stets, für den Frieden zu sein, aber nicht für den von Präsident Santos ausgehandelten Frieden. Damit verbreitete Uribe die Vorstellung, das Friedensabkommen sei nach einem Nein im Referendum zu verbesserten Bedingungen für die kolumbianische Regierung problemlos neu verhandelbar.
- Beim Blick auf das Abstimmungsergebnis fällt auf, dass Kolumbien hier nicht nur in Regionen, sondern auch in Stadt und Land gespalten ist. In den meisten Großstädten, die vom FARC-Konflikt weniger betroffen waren und sind als viele ländliche Gebiete, wurde das Abkommen abgelehnt. In den Städten verfingen die populistischen Mahnungen Uribes. Besonders in den städtischen Mittel- und Oberschichten war die Sorge vor dem angeblich drohenden „Castro-Chavismus“ groß. Außerdem wollte man in den Städten, wo sich die Parlamente und Regierungsinstitutionen befinden, nicht akzeptieren, dass die FARC in diesen bald politisch vertreten sein sollte.
- Viel Unverständnis und Unmut zog die geplante Sonderjustiz für FARC-Rebellen auf sich. Letztlich war es nicht vermittelbar, dass die FARC-Bosse nicht ins Gefängnis müssen. In diesem Punkt sind sie aus Gründen der Ehre auch nicht zu Zugeständnissen bereit. Außerdem sollte das maximale Strafmaß für FARC-Kämpfer acht Jahre betragen. Wiedergutmachung könne auf diese Weise nicht gelingen, so die Gegner des Abkommens. Auch kritisierten sie, dass FARC-Rebellen teure Reintegrierungs- und Ausbildungsprogramme angeboten würden, von denen arme Bevölkerungsteile, die sich nie etwas zu Schulden kommen ließen, nicht mal zu träumen wagten.
- Die kolumbianische Bevölkerung konnte sich letztlich nicht mit dem Friedensvertrag und -prozess identifizieren. Abzulesen ist das an der extrem niedrigen Wahlbeteiligung von 37,4%. Dies mag daran liegen, dass die Verhandlungen im kubanischen Havanna geführt wurden, und die Bevölkerung in den Verhandlungsprozess nie wirklich eingebunden war. Debatten über die Inhalte gab es kaum. Sie bekam schließlich ein fertiges Vertragswerk präsentiert, das mit 297 Seiten länger war als die kolumbianische Verfassung selbst. Die zur Abstimmung stehenden Inhalte waren wohl vielen Kolumbianern unklar. Einige mögen sich zudem aufgrund der eindeutigen Prognosen zugunsten des Ja-Lagers den Weg zum Wahllokal „gespart“ haben.
Das Ergebnis der Abstimmung über den Friedensvertrag und die niedrige Wahlbeteiligung legen die Schlussfolgerung nahe, dass die kolumbianische Gesellschaft tief gespalten ist. Eine wichtige Erkenntnis dieses Plebiszites ist, dass viele Kolumbianer noch nicht zur vollständigen Versöhnung bereit sind und einen härteren Umgang mit den FARC-Rebellen fordern. Zu offensichtlich sind die Folgen des Konflikts, zu viele Menschen haben Angehörige verloren oder sind vertrieben worden. Frieden braucht Versöhnung, und Versöhnung braucht hier in Kolumbien wohl noch Zeit.
Doch wie geht es nun weiter?
Präsident Santos hatte im Wahlkampf für ein „Si“ im Referendum stets betont, es gäbe keinen Plan B. Tatsächlich waren die ersten Tage nach der Abstimmung geprägt von einer verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus der politischen Krise. Niemand wusste, wie es weiter geht. Fest stand nur, dass alle im Glauben des sicheren Erfolges schon vorbereiteten Maßnahmen zur Demobilisierung der FARC abgebrochen wurden und FARC-Kämpfern befohlen wurde, wieder in ihre Stellungen zurückzukehren. Es steht durchaus zu befürchten, dass einige FARC-Einheiten sich nun, nachdem ihre Resozialisierungsprogramme nicht umgesetzt werden, aus Mangel an Alternativen als kriminelle Banden weiteragieren, denn eine Berufsausbildung haben die meisten Rebellen nicht.
Noch ist es aber nicht so weit. Der ursprünglich bis Ende Oktober vereinbarte Waffenstillstand wurde bis zum 31. Dezember verlängert. Der politisch schwer angeschlagene Präsident Santos rief Vertreter aller Parteien zu einem nationalen Dialog auf, um einen Ausweg aus der Krise zu suchen und einen nationalen Konsens zu finden.
Derweil wurden die Gespräche zwischen FARC und Regierungsvertretern in Havanna wieder aufgenommen, um einen mehrheitsfähigen Friedensvertrag zu verhandeln, unter Berücksichtigung der vielen Kritikpunkte. Ob dies von Erfolg gekrönt sein wird, bleibt aufgrund des Bestehens der FARC-Führung auf einigen strittigen Punkten abzuwarten. Allseits ist momentan jedoch ein intensives Bemühen erkennbar, baldmöglichst einen endgültigen Friedensvertrag schließen zu können. Zudem nahm die kolumbianische Regierung Friedensverhandlungen mit der zweitgrößten Guerillagruppe Kolumbiens, ELN, auf.
Nichtsdestotrotz war Präsident Santos nach dem von ihm initiierten, gescheiterten Friedensabkommen politisch schwer angezählt. Da es im Wahlkampf wenig um Inhalte ging und die Medien die Abstimmung zu einem Duell zwischen den Rivalen Santos und Uribe stilisierten, stand der Präsident nach dem Plebiszit als großer Verlierer da. Sein Friedenskonzept schien durch diesen massiven Autoritätsverlust nicht mehr durchsetzbar. Die rechtskonservative Opposition um Ex-Präsident Uribe hatte zu diesem Zeitpunkt Oberwasser und nutzte dies, um ihre radikaleren Forderungen einzubringen. Dass mit diesen jedoch ein Friedensvertrag mit den FARC zu machen ist, darf bezweifelt werden.
Die Auswirkungen des Friedensnobelpreises für Santos
In Kolumbien war es halb 4 Uhr in der Nacht am 7.Oktober, als das Nobelpreiskomitee versuchte, Juan Manuel Santos die Nachricht von der Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn zu überbringen, bevor man mit der Nachricht an die Öffentlichkeit ginge. Die Mitarbeiter im Präsidentenpalast in Bogotá meinten jedoch, dass man einen Präsidenten nicht um halb 4 Uhr nachts wecke, deshalb erfuhr Santos von seinem Glück erst kurz nach dem Aufstehen.
Für Juan Manuel Santos war dies der Abschluss einer Woche, die extremer nicht hätte sein können: vom großen Verlierer der Volksabstimmung zum historischen Gewinner des Friedensnobelpreises. Vielen stellte sich die Frage, ob dies nach der Ablehnung „seines“ Friedensvertrages durch die Bevölkerung gerechtfertigt sei, doch für Kolumbien ist diese Entscheidung durchaus richtungsweisend.
Zwar kann auch der Friedensnobelpreis für Santos weder die aktuelle politische Unsicherheit und Polarisierung im Land beseitigen, noch die Gegner des Abkommens vom selbigen überzeugen. Dennoch verleiht er dem Präsidenten und seiner Friedens- und Dialogpolitik einen dringend benötigten Schub und Autorität. Das Machtpendel zwischen Santos und Uribe ist dadurch wieder zugunsten von Santos ausgeschlagen. Und als Friedensnobelpreisträger kann er es nicht zulassen, dass der Krieg nach Kolumbien zurückkehrt. Es nimmt den Präsidenten in die Pflicht, weiter eine friedliche Lösung zu suchen. Wie die große Wochenzeitschrift „Semana“ titelt, verleiht der Preis für Santos dem Friedensprozess neuen, dringend benötigten „Sauerstoff“.
In der kolumbianischen Bevölkerung wurde die Preisverleihung vor allem als internationale Rückendeckung für Santos umstrittene Friedenspolitik aufgefasst. Manche Kollegen hier vor Ort sahen es auch als Mahnung der Weltgemeinschaft an die Kolumbianer, sich endlich zusammenzuraufen und Frieden zu schaffen. Große Euphorie entfachte der Preis für Präsident Santos jedenfalls nur bei wenigen.
Am Abend des 7. Oktobers kam es jedoch in vielen kolumbianischen Städten zu großen Friedensmärschen seitens der Befürworter des abgelehnten bzw. eines neu zu verhandelnden Friedensabkommens, um Santos für die anstehenden Neuverhandlungen mit den FARC und der Opposition zusätzlich den Rücken zu stärken. Vor der Abstimmung hatte sowas kaum gegeben.
So hilft die Verleihung des Friedensnobelpreises an Santos auch, die an der geringen Wahlbeteiligung am Plebiszit abzulesende Gleichgültigkeit vieler Kolumbianer gegenüber dem Friedensprozess zu überwinden und das Abstimmungsergebnis nochmal zu reflektieren. Nicht wenige Kolumbianer werden sich hinterfragen, ob das ausgehandelte Abkommen tatsächlich so schlecht und ungerecht war, dass es abzulehnen war.
Lieber Felix,
danke für diesen Beitrag. Er erklärt mir vieles und erinnert uns noch einmal an das gescheiterte Abkommen als auch an den Nobelpreis für Santos. Ich bin zu wenig Kennerin der Situation vor Ort, aber ich wünsche mir Frieden für die vielen Kolumbianer, die jahrzehntelang der Gewalt ausgesetzt waren. Vielleicht klappt das ja irgendwie doch noch …
LG, Uta