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Flüchtlinge schützen: Plädoyer für eine humane Migrationspolitik

Es braucht einen globalen Blick auf Migration und die notwendigen Transformationsprozesse, die vor uns liegen – eine sozialökologische Wende, die strukturell Wirtschafts- und Wachstumsmodelle verändert.

Ein Beitrag aus Flucht. Ursachen bekämpfen, Flüchtlinge schützen © Thomas Lohnes, epd-bild.de

Im UN-Gebäude am Eastriver in New York wurde Ende Mai 2022 fünf Tage lang über Migration diskutiert – über Rechte von Menschen vor Ort und auf ihren Wegen in und durch Nachbarstaaten und in andere
Regionen. Viele Länder haben sich an der Generaldebatte beteiligt, und während die Perspektiven auf Migration als Chance, als Bedrohung, als politisches Instrument oder Verjüngungskur für den eigenen Arbeitsmarkt unterschiedlicher kaum hätten sein können, wurde doch deutlich, dass das Thema weltweit nach wie vor hochumstritten und emotional ist.
Nicht wenige Staaten wollen einer empfundenen Entgrenzung menschlicher Mobilität harte Barrieren entgegensetzen und diesen Teil der Globalisierung einschränken, während der Handel und der Fluss von Gütern, Dienstleistungen und Kapital möglichst unbegrenzt geschehen soll. Viel zu selten werden beide Phänomene zusammengedacht und Migration als Folge gerade dieser Handels- und Wirtschaftsstrukturen verstanden.

Unsere Art zu leben bestimmt das Leben anderer

Im Kontext der Erderhitzung ist die Verantwortung der emittierenden Staaten mittlerweile verstanden worden – die Konsequenzen tragen sie aber bisher nur zu einem geringen Teil. Vertreibung aufgrund von
Klimaveränderungen
sehen wir bereits heute in vielen Teilen der Welt, prominent in den Inselstaaten des Pazifiks, deren Lebenswelten gänzlich zu verschwinden drohen. Weniger medial sichtbar sind sie in anderen Regionen durch lang anhaltende Dürren, unregelmäßige Niederschläge und somit Ernteausfälle, Versalzung von Böden oder durch wiederkehrende Naturkatastrophen, etwa in Asien oder im südlichen und östlichen Afrika. In der Regel werden dadurch Menschen ihrer Lebensgrundlagen beraubt, häufig gerade jene, die wenig abgesichert sind, Ernte- und Einkommensschwankungen nicht ausgleichen können und über weniger Ressourcen verfügen.

Es braucht regionale Modelle zum Schutz von Flüchtlingen

Die allermeisten, die durch den Klimawandel vertrieben werden, wählen nicht den Weg in andere Kontinente, sondern bleiben im eigenen Land oder in Nachbarländern, bei Freunden oder Verwandten oder versuchen sich an einem Wiederaufbau ihrer Lebensgrundlagen trotz widriger Umstände.

Solange es keinen übergreifenden internationalen Schutz gibt, braucht es verstärkt regionale Schutzmodelle, angepasst an die lokalen Gegebenheiten, wie sie im Pazifik derzeit entwickelt werden. Die Entwicklung solcher Modelle muss weiterhin auch durch Deutschland stark unterstützt werden.

Verschlechterung von Lebensbedingungen ist Grund für Vertreibung und Flucht

Die Verschlechterung der Lebensbedingungen ist ein wesentlicher Grund für Vertreibung und eine Konsequenz unseres Lebensstils: der Raubbau durch extraktive Industrien, durch extensive Landwirtschaft,
durch die Abholzung von Wäldern, durch kohlenstoffbasiertes Wachstum und den Energiehunger seit der industriellen Revolution. Auf diesen Missständen bauen unser Konsum, unser Alltag und unsere Bequemlichkeit auf. Die Konsequenzen aus diesem Ressourcenhunger werden uns viel zu selten direkt bewusst, er treibt aber Menschen in anderen Weltregionen in die Armut und in die Vertreibung, zerstört Naturressourcen unwiederbringlich und verschärft Konflikte. All das schafft Fluchtgründe.

Papst Franziskus hat in der Enzyklika Laudato sí eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass der »Schrei der Armen und die Klage der Erde« immer hörbarer würden und zugleich gemeinsam gedacht werden müssten. Es gibt Orte, an denen die Konflikte zwischen unserem Lebensstil und den damit verbundenen Konsequenzen direkt aufeinandertreffen. Häufig Orte, die zu wenig Öffentlichkeit bekommen und an denen Ausbeutung und menschenunwürdige Bedingungen den Alltag bestimmen.

Ausbeutung in globalen Lieferketten

In der Coronakrise sind die skandalösen Arbeitsbedingungen von Migranten in der europäischen und deutschen Fleischindustrie sichtbar geworden. Ähnliches wissen wir seit Jahren etwa von Erntehelfern in Südeuropa, deren irregulärer Arbeitsstatus Löhne ermöglicht, die das Wirtschaftssystem billigend in Kauf nimmt und die Verbraucher am Ende ebenfalls.
Jenseits von Europa finden sich ebensolche Orte, in denen unser Lebensstil mit der Ausbeutung anderer einhergeht und am Ende Perspektiven vor Ort erschwert, manche in Abhängigkeiten und andere in
die Migration treibt. Dorthin werden die Folgen unseres Wirtschaftens externalisiert – aus den Augen, aus dem Sinn. Zwei dieser Orte seien hier illustrierend genannt. Die Schiffsfriedhöfe in Indien und Bangladesch, in denen häufig Wanderarbeiter unter schwierigsten und gefährlichen Bedingungen Schiffswracks verschrotten – für geringen Lohn und unter Gefährdung ihrer Gesundheit, nicht selten auch durch asbesthaltige Altlasten. Hinzu kommt die Umweltbelastung durch Schweröl und andere Stoffe. Die Schiffe, die meist Eignern aus dem Norden gehören, sind zuvor unter allen denkbaren Flaggen (inklusive europäischer) über die Weltmeere gefahren und waren Teil des Welthandels. Die schlecht bezahlten Schiffsbesatzungen kamen aus den Ländern des Südens, und die Drecksarbeit des Abwrackens überlässt man, oft illegal, schließlich den Ärmsten, häufig sind es Migranten.

Es sind nicht selten neokoloniale Strukturen, die günstigere Warenpreise in Europa und der westlichen Welt durch menschenunwürdige Bedingungen von Arbeit und die Aushöhlung von Menschenrechten ermöglichen.

Ein anderer solcher Ort, wo Flucht, Ausbeutung und Ressourcenabbau direkt zusammenwirken, sind die informellen Goldminen im Norden des Tschad, manche lassen sich nur zu Fuß oder auf Kamelen erreichen. Wegen der ungeregelten Verhältnisse und der Einflüsse verschiedener Machtinteressen
flammen immer wieder Konflikte auf. Zehntausende Menschen arbeiten dort in einer Unzahl an kleineren und größeren Abbaustätten. Die Minen liegen an einer Migrationsroute nach Norden – nach Libyen,
die aber wesentlich weniger bekannt ist als jene über Agadez im Nachbarland Niger. Manche Grubenarbeiter gehen zur Minenarbeit mit der Hoffnung auf ein Auskommen, andere enden über Schmuggler dort. Sie sollen sich die Schulden für den Grenzübertritt durch harte Arbeit verdienen.
Das aber ist Glückssache, denn Gold zu finden ist weder garantiert noch ungefährlich. Berichtet wird aus der Region, dass es auch einen anderen Weg gibt, der Lage zu entkommen, nämlich sich auszulösen, indem man Jugendliche aus ihrer Heimatregion anwirbt, in die Minen zu kommen. Ein zynisches Schneeballsystem: Rohstoffabbau, Ausbeutung, Flucht und Gewalt kommen hier unter einem Brennglas zusammen.

»Diese Wirtschaft tötet«, klagt Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium. Und mit Blick auf globale Lieferketten, die in Teilen nach wie vor auf Ausbeutung als Geschäftsmodell setzen, diese geradezu einkalkulieren, ist von dieser Aussage nichts zurückzunehmen.
Wenngleich Bemühungen um ein Lieferkettengesetz und eine stärkere globale Verantwortung einzelner Unternehmen in die richtige Richtung weisen.

Interessen von Migrant*innen, Herkunfts- und Aufnahmestaaten berücksichtigen

Zurück zur Konferenz der Vereinten Nationen in New York. Dort wird deutlich, dass Migration von einigen Staaten als Chance verstanden und definiert wird – als Chance für einen Austausch, aber insbesondere für
Arbeitsmärkte. Viele OECD-Staaten befinden sich in einem großen demografischen Umbruch, Geburtenraten sinken, auf den eigenen Arbeitsmärkten bleiben zunehmend Stellen unbesetzt. In nicht wenigen Beiträgen zur Konferenz werden die essenziellen Verdienste von Migrantinnen und
Migranten in der Gesundheitsversorgung und der Pflege
gewürdigt, die während der Corona-Pandemie offen zutage getreten sind. Auch hier sind es oft schwierige Arbeitsbedingungen. Viele Akteure erwarten für die Zukunft ein großes Ringen um Migranten als Arbeitskräfte für die Arbeitsmärkte der Industrieländer, was den Blick auf Migration und das Wesen der Migration selbst grundsätzlich verändern wird.
Es wird darum gehen müssen, neue Wege zu eröffnen, die sicher sind für die Betroffenen und die die Interessen der Menschen selbst, der Herkunfts- wie der Aufnahmestaaten, berücksichtigen. Derzeit werden Migrantinnen und Migranten häufig als Ressource für die Arbeitsmärkte der OECD-Staaten gesehen, die die vorhandenen Lücken füllen sollen – nach den Bedürfnissen der aufnehmenden Länder. Gleichzeitig werden dadurch Lücken gerissen in den Arbeitsmärkten und gesellschaftlichen
Systemen der Herkunftsländer.

Angesichts von Prognosen, dass sich die Bevölkerung mancher europäischen Länder in den nächsten 80 Jahren fast halbieren könnte und zugleich stark altern wird, sind die Herausforderungen groß und der Bedarf an Migration, etwa im Pflege- und Gesundheitsbereich, absehbar. Es kann dabei aber nicht einseitig um die Bedarfe der aufnehmenden Staaten gehen. Es wird ein System brauchen, das die Ausbildungskosten der Migrierenden mitberücksichtigt und gewährleistet, dass Wissen und Arbeitskraft nicht ohne Gegenleistung abwandern. Der Verweis auf Finanztransfers durch Migrantinnen und Migranten in ihre Heimatländer greift dabei viel zu kurz, da dies private und freiwillige Überweisungen sind, die man nicht ohne Weiteres in die Kosten-Nutzen-Abwägungen übernehmen kann.

Es wird sehr darauf ankommen, wie Arbeitsmigration und Anwerbung vor Ort fair und gerecht gestaltet werden können. Bisher zeigt sich, dass legale Migration vor allem dort ermöglicht wird, wo die aufnehmenden Staaten ein starkes Eigeninteresse haben.
Unser Lebensstil und unsere Interessen in Europa bestimmen also darüber mit, welche Menschen einen Zugang zu diesem Kontinent und in den hiesigen Arbeitsmarkt haben. Das mag in Teilen politisch nachvollziehbar sein; zugleich besteht die Gefahr von neokolonialen Abhängigkeitsstrukturen und einem eurozentristischen Wirtschafts- und Entwicklungssystem.

Migration als Chance für Herkunfts-, Transit- und Industriestaaten gestalten

Es braucht einen globaleren Blick auf Migration, der an die Wurzeln unseres Wachstumsmodells und unseres Lebensstils geht. Migration wird nach wie vor zu oft als Einbahnstraße zugunsten der Industriestaaten verstanden mit einem gönnerhaften Verhältnis den Migrierenden gegenüber. Es gilt, aus der rein deutschen Perspektive herauszutreten und das gesamte Feld mit den Herkunfts- und Transitstaaten gemeinsam zu betrachten, vor allem aber müssen dort die Betroffenen selbst in den Mittelpunkt gestellt und gehört werden – ebenso wie die Zivilgesellschaft.

Ob in den Tagen von New York, ob an den beschriebenen fast vergessenen Orten, ob in den Hauptstädten der Welt, Migration wird letztlich nicht nur durch das gesteuert, was man Migrationspolitik nennt, sondern wohl noch stärker durch die notwendigen Transformationsprozesse, die vor uns liegen – eine sozialökologische Wende, die unseren Lebenswandel ernsthaft infrage stellt und strukturell Wirtschafts- und Wachstumsmodelle verändert. Es wird mehr Wertschöpfung in den Ländern des Globalen Südens brauchen und einen ernsthafteren Dialog über Migration als Chance für alle Seiten. In New York ist dieser Aufbruch wohl eher ausgeblieben.
Ziel bleibt: Anerkennung, Achtsamkeit und Wertschätzung verschiedener Lebenswelten, die die Erde zu einem gemeinsamen Haus machen, zu einem Ort des Zusammenlebens vieler Kulturen und unterschiedlicher Erfahrungen.

Erschienen in: Flucht. Ursachen bekämpfen, Flüchtlinge schützen (oekom-Verlag 2022)

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Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer bei Misereor. Bevor er 2012 zu Misereor kam, war er 15 Jahre in Brasilien als Pfarrer tätig und bildete in verschiedenen Ländern Lateinamerikas Laienmissionare aus.

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