Suche
Suche Menü

Kolumbien: Der unermüdliche Kampf für die Wahrheit

Journalisten deckten 2008 einen Skandal auf: Angehörige des kolumbianischen Militärs hatten Zivilist*innen – überwiegend junge Männer – verschleppt, ermordet und als Guerillakämpfer verkleidet. Denn für im Kampf getötete Guerillakämpfer erhielten die Soldaten Prämien in Form von Sonderzahlungen, Urlaub oder Beförderungen. Mit den als „Falsos Positivos“ bekannt gewordenen Tötungen sollte der vermeintliche Erfolg der militärischen Bekämpfung der Guerillas belegt werden. Mehr als 6.000 Menschen verloren so ihr Leben. Viele Familien blieben mit einem unüberwindbaren Verlust und offenen Fragen zurück. Auch Jacqueline Castillo Peña und Rubiela Giraldo Valencia von der Organisation MAFAPO wurde auf diese Weise ein geliebter Mensch genommen. Sie werden nicht müde für die Wahrheit hinter diesen Schandtaten zu kämpfen.

Jacqueline Castillo Peña (links) und Rubiela Giraldo Valencia (rechts) sind mutig. Denn ihr Engagement macht sie auch zur Zielscheibe von Leugnern der Geschehnisse und zahlreichen Bedrohungen. Trotz aller Widrigkeiten setzen die Frauen von MAFAPO ihren Kampf fort. © Misereor

Was führt Sie nach MAFAPO*?

(*MAFAPO steht für Madres de Falsos Positivos – Vereinigung der Mütter und Angehörigen von Opfern außergerichtlicher Hinrichtungen)

Rubiela: Ich bin die Mutter von Diego, einem jungen Mann, der 2008 in Soacha verschleppt wurde und dann einige Tage später in einem Massengrab tot aufgefunden wurde. Das Grab war in Ocaña, einer Stadt im Departamento Norte de Santander. Er wurde zuvor mit dem Versprechen auf einen Arbeitsplatz und der Hoffnung auf ein besseres Leben von der Stadt weggebracht. Als mein ältester Sohn einige Monate später die sterblichen Überreste in Empfang nehmen konnte, wurde ihm gesagt, dass Diego ein Guerillakämpfer gewesen und im Kampf gefallen sei. Dabei hatte er wenige Tage bevor er verschleppt wurde seinen obligatorischen Polizeidienst beendet.

Jacqueline: Mein Bruder Jaime wurde 2008 aus Bogotá verschleppt und einige Tage später tot aufgefunden. Jaime wurde zu Unrecht als Guerilla-Kämpfer dargestellt, der im Kampf gefallen sei. Er wurde zusammen mit anderen jungen Menschen und Jugendlichen aus Soacha in Ocaña aufgefunden. Das überzeugte mich davon, dass der Fall meines Bruders kein Einzelfall war.

Wie kam es zur Gründung von MAFAPO?

Rubiela: MAFAPO ist eine Organisation, die sich aus dem Umstand heraus gegründet hat, dass uns Müttern allen das Gleiche widerfahren ist. Ich versuchte mit der Unterstützung eines Anwalts herauszufinden, was mit meinem Sohn passiert ist. Dabei habe ich festgestellt, dass allein aus meinem Stadtteil 19 Mütter dasselbe erlebt haben. Unsere Kinder sind plötzlich verschwunden und wurden weit entfernt an anderen Orten des Landes tot aufgefunden.

Die Aufarbeitung war nicht einfach. Als Jacqueline zu unserer Gruppe dazugestoßen ist, hat sie uns sehr unterstützt und gefördert. So konnten wir uns besser organisieren. Dabei geht es nicht nur darum, sich über das Geschehene auszutauschen, sondern auch einzufordern, dass die Taten aufgeklärt werden.

MAFAPO war von Oktober bis Dezember auf Rundreise in Europa um den Fall der „Falsos Positivos“ und seine Aufarbeitung bekannt zu machen. Hier sind sie vor dem Europäischen Parlament in Brüssel zu sehen. © MAFAPO Internacional

Welches Ziel verfolgt MAFAPO?

Jacqueline: Wir wollen, dass die Wahrheit über diese Staatsverbrechen ans Licht kommt. Die Akteure, die dahinterstecken, sind Militärs also Staatsbedienstete gewesen. Wir wollen genau wissen, wer diese Verbrechen begangen hat und vor allem auch wer sie befohlen hat. Das fordern wir gemeinsam mit anderen Organisationen mit der „Kampagne für die Wahrheit“ (Campagna por la Verdad). Zudem besuchen wir viele Schulen und Universitäten, um unsere Geschichten zu erzählen und zu verbreiten. Wir werden auch aus anderen Regionen des Landes angefragt und besuchen diese. Denn überall könnten Angehörige der „Falsos Positvos“ sein. Wir werden nicht aufhören, die Taten sichtbar zu machen, damit die kolumbianische Bevölkerung erfährt, was wirklich passiert ist.

Welche Schwierigkeiten und Widerstände gibt es bei Ihrer Arbeit?

Jacqueline: Wir engagieren uns seit über 15 Jahren, um diese Verbrechen aufzudecken und trotzdem begegnen wir nach all den Jahren immer wieder Gruppen und Menschen, die sagen, das sei nicht real. Sowohl in Kolumbien als auch auf internationaler Ebene. Wir werden bedroht und von politischen Persönlichkeiten und Generälen der kolumbianischen Armee öffentlich verleumdet. Sie behaupten, dass die Morde eine Erfindung seien und nie stattgefunden hätten. Deshalb arbeiten wir vor allem in Schulen und Universitäten, um die jungen Leute zu erreichen. Damit sie mit diesem Wissen aufwachsen und dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder passiert.

Gegen das Vergessen: Das Engagement der Frauen von MAFAPO gedenkt der 6.402 Opfer. © MAFAPO Internacional

Findet diesbezüglich eine gesellschaftliche Auseinandersetzung statt? Fördert oder erschwert der kolumbianische Staat die Aufklärung?

Rubiela: In der Zivilgesellschaft gibt es ein relativ großes Interesse an dem Thema. Auch die aktuelle Regierung, die jetzt ein gutes Jahr an der Macht ist, hat hier und da Unterstützung signalisiert. Unter anderem auch für die Errichtung eines Denkmals für die 6.402 Opfer, die bisher nachgewiesen werden konnten. Am 3. Oktober 2023 gab es eine Zeremonie mit einer öffentlichen Entschuldigung. Die Regierung war in Person von Verteidigungsminister Iván Velásquez und Präsident Gustavo Petro bei der Zeremonie anwesend. Das ist nun unter der neuen Regierung möglich aber die bisherigen Regierungsmitglieder haben dagegen kein Interesse daran gezeigt, eine Aufklärung zu unterstützen.

War das nach 15 Jahren die erste Entschuldigung seitens der Regierung?

Jacqueline: Es war bereits die zweite öffentliche Entschuldigung des Verteidigungsministers, aber es war die erste, bei der auch der Präsident anwesend war. Es ist von großer Bedeutung, dass auch der Regierungschef bei dem öffentlichen Akt dabei war. Danach hat es sogar einen dritten Entschuldigungsakt des Verteidigungsministers gegeben.

Im Rahmen der Aufarbeitung hat es verschiedene Anhörungen gegeben, in denen nicht nur Regierungsvertreter, sondern auch Vertreter des Militärs zugegeben haben, dass u.a. in Antioquia, Catatumbo und den Llanos Orientales Jugendliche ermordet wurden. Das Militär hat seine Taten auch im Rahmen der Aufarbeitung durch die Wahrheitskommission zugegeben. Dort saßen uns Militärs quasi unmittelbar gegenüber und man konnte ein direktes Gespräch führen. Einige haben um Vergebung gebeten.

Was bedeutet für Sie Wiedergutmachung und Gerechtigkeit zu erfahren?

Rubiela: Wir wünschen uns die Wahrheit und vor allem Aussagen von hochrangigen Militärs. Denn die bisherigen Eingeständnisse kamen nicht von den höchsten verantwortlichen Militärs und politisch Verantwortlichen. Wir wünschen uns, dass auch die Mitglieder der damaligen Regierung – der damalige Präsident Álvaro Uribe Vélez und der damalige Verteidigungsminister und spätere Präsident Juan Manuel Santos – zur Wahrheitsfindung und Aufklärung beitragen. Wir sind der Überzeugung, dass sie letztlich für die Taten verantwortlich sind. Bislang ist es uns nicht möglich gewesen sie anzuhören. [Anm d. Red.: Die Friedensverträge von 2016 schließen eine Anklage der Regierungschefs im Rahmen der Aufarbeitung des Konfliktes aus.] Wir sprechen nicht einmal von Verurteilungen, sondern nur von offiziellen Aussagen. Doch nur mit konkreten Eingeständnissen von ihnen kann ein möglichst hoher Grad an Wahrheit erreicht werden und Gerechtigkeit wiederhergestellt werden.

Was gibt Ihnen nach so vielen Jahren die Kraft nicht aufzugeben?

Rubiela: Wir finden Kraft in den jungen Menschen. Die Kinder und Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, motivieren uns weiterhin dafür zu kämpfen, dass die Morde nicht in der Straflosigkeit bleiben. Denn die Kinder, die eines Tages diese Gesellschaft tragen werden, sollen über die Geschehnisse aufgeklärt sein. Die nachfolgenden Generationen sind uns sehr wichtig.

Geschrieben von:

Portrait einer Mitarbeiterin

Charleen Kovac ist Presse-Volontärin bei Misereor.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.