Manchmal, wenn ich über die gesellschaftliche Praxis des Umgangs mit Unberührbaren erzähle – die in Indien 63 Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit immer noch besteht – weisen mich Leute darauf hin, dass Indien doch eine Verfassung habe, die die Unberührbarkeit verbiete. Meistens kommen solche Einwürfe von Freunden aus Europa.
Es stimmt, dass die Diskriminierung aufgrund von Kasten laut Verfassung abgeschafft ist. Aber das Tragische an der Realität in Indien ist, dass gesellschaftliche Kräfte mächtiger sind als das Gesetz. Das liegt daran, dass die Leute, die an das Kastenwesen glauben, auch zugleich diejenigen sind, die für die Umsetzung der Gesetze in Indien zuständig sind.
Genau aus diesem Grund musste die indische Regierung 1989 ein strengeres Gesetz verabschieden, um Gräueltaten an den Dalits zu unterbinden. In den indischen High Courts haben schon Richter den Richterstuhl mit Wasser aus dem (als heilig geltenden) Fluss Ganges gereinigt, aus dem einzigen Grund, dass der Richter, der vor ihnen auf diesem Stuhl saß, ein Dalit war. Es gibt Dörfer, in denen Mauern die Wohngebiete der Dalits abtrennen, damit diese tunlichst unter sich bleiben. Die erste Vorstellung, von der wir uns verabschieden müssen, ist die, dass die Unberührbarkeit in Indien per Gesetz abgeschafft ist. Die Dinge sind hier nicht so wie im Rest der Welt. In Indien stehen die Mächte, die das Kastenwesen verteidigen, über dem Gesetz.
Unsere Organisation REDS hat die Dalit-Panchayat-Bewegung ins Leben gerufen, und mit vielen unserer Forderungen gegen bestehende Praktiken und Ungerechtigkeiten gegen Dalits konnten wir uns schon durchsetzen. Unsere Bewegung ist auch nicht allein. Es gibt in Indien viele Aktivisten unter den Dalits, die engagiert für die Befreiung und die Menschenrechte unseres Volkes kämpfen. Bevor ich aber auf die jüngsten Erfolgsgeschichten in Indien eingehe, würde ich gerne noch ein wenig anschaulicher beschreiben, was Unberührbarkeit im praktischen Leben heißt und welche Folgen sie für den Alltag von Dalits in ganz Indien hat.
Alltägliche Ausgrenzung
Dalits haben keinen Grundbesitz. Zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes hängen sie von den Angehörigen der Kasten ab, denen der Grund und Boden gehört. Der Hinduismus schließt Dalits außerdem ausdrücklich von jeglicher Bildung aus. Erst die europäischen Missionare und britischen Kolonialherren öffneten uns die Tür zur Bildung. Die meisten von uns – nach einigen Schätzungen 65 % – sind noch immer Analphabeten. Meine eigenen Eltern konnten nicht lesen und schreiben. Ich selber verdanke meine Bildung vor allem europäischen Missionaren. Eine fast zweitausendjährige Geschichte der Mittellosigkeit und fehlenden Bildung haben die Dalits quasi zu Sklaven der Kastenangehörigen gemacht.
Auf dem Land haben Restaurants üblicherweise getrennte Tee- und Kaffeetassen. Es gibt eigene Tassen für Dalits, aus denen sie ihren Tee oder Kaffee trinken und die sie hinterher selber abspülen müssen. Der Gastwirt nimmt diese Tassen nicht in die Hand und benutzt sie auch nicht für die anderen Gäste.
Zutritt verboten – selbst im Tempel
Obwohl aus Sicht der Hindus auch die Dalits der hinduistischen Religionsgemeinschaft angehören, haben sie keinen Zutritt zu den Gebetsstätten. Im Hinduismus gelten Dalits als Menschen, die in einem religiösen Sinne ihre Umgebung verunreinigen. So ist es den Dalits nicht einmal erlaubt, aus den von der Regierung errichteten Gemeindebrunnen im Dorf zu trinken. Ich erinnere mich noch an den Kampf, unseren Landsleuten Zugang zu Trinkwasser zu verschaffen und ihnen das Wasserschöpfen aus staatlich finanzierten Brunnen zu erlauben. Ihr könnt euch sicher nicht vorstellen, dass schon viele unserer Leute brutal zusammengeschlagen wurden, nur weil sie aus einem Gemeindebrunnen Trinkwasser entnommen haben. Es gibt eigentlich keine Infrastruktur für die Allgemeinheit in den meisten Dörfern Indiens. In ein und demselben Dorf haben die Bewohner unterschiedliche Rechte, je nachdem ob sie den Kasten angehören oder Dalits sind. Sogar die Regierung baut Unterkünfte für Dalits meistens in abgetrennten Gebieten und nicht dort, wo die Angehörigen der Kasten leben.
Eine besonders widerwärtige Form der Ausbeutung, die immer noch in großen Teilen Indiens verbreitet ist, ist das System des free caste labour. Dabei handelt es sich um traditionelle religiöse Pflichten der Dalits. Das hinduistische Gesetzbuch, auf das diese Praktiken zurückgehen, heißt Manusmriti. Da ich aber befürchte, meine Leser am Ende vielleicht allzu fassungslos zurückzulassen, werde ich erst im nächsten Blog eingehender über das System des free caste labour berichten.