Immer wieder verübt Boko Haram Bombenanschläge auf Kirchen. Ende Januar griff die islamistische Sekte Polizeistationen in Kano an, fast 200 Menschen starben. George Ehusani, ehemaliger Generalsekretär der Nigerianischen Bischofskonferenz, spricht im Interview über die islamistische Sekte Boko Haram und das Zusammenleben von Christen und Muslimen in Nigeria.
Was passiert gerade in Nigeria?
George Ehusani: Es ist eine ganz neue Dimension der Gewalt, die wir gerade erleben. Vor dem Bombenanschlag in Kano waren es einzelne Attacken. Eine Kirche. Eine Polizeistation. Aber jetzt? Boko Haram hat 30 Polizeistationen auf einmal angegriffen. Was gerade passiert, ist gut geplant und gut koordiniert. Das ist erschreckend.
Wer ist Boko Haram?
George Ehusani:Wir wissen nur, dass Boko Haram eine fundamentalistische Sekte ist, die im Norden Nigerias einen islamistischen Staat errichten will. Wir wissen, dass sie wie Al Kaida operiert. Und wir wissen, dass sie gut vernetzt ist – aber mit wem genau, wissen wir nicht.
Wie konnte Boko Haram so stark werden?
George Ehusani:Ende der 80er Jahre brach die Wirtschaft ein, Geschäfte schlossen, die Produktion kam zum Stillstand, die Inflation stieg. Die Menschen verloren ihre Hoffnung. Nigeria bot ihnen keine Zukunft mehr. Militante Gruppen entstanden, beispielsweise im Niger-Delta. Viele, gerade auch junge Menschen, wanderten aus, arbeiteten in Pakistan, Iran, Saudi Arabien. Manche erhielten Stipendien. Einige von ihnen kamen radikalisiert zurück – in ein Land, in dem viele junge Leute ohne Job sind.
In einem Video hat Boko Haram alle Christen im Norden aufgefordert, die Gegend zu verlassen. Sehen Sie die Gefahr, dass sich Nigeria teil in einen muslimischen Norden und einen christlichen Süden?
George Ehusani: Wie soll sich Nigeria aufteilen? Wir sind zu sehr vermischt, als dass wir uns trennen könnten. Es stimmt nicht, dass im Norden Muslime leben und im Süden Christen. Im nördlichen Bundesstaat Bauchi leben beispielsweise 60 Prozent Christen, in manchen Gegenden des Südens 75 Prozent Muslime.
Welche Rolle spielt die Religionszugehörigkeit für Nigerianer?
George Ehusani: Religion wird zunehmend wichtig. Das kommt ganz automatisch. Wenn Sie Christ sind, macht es Sie betroffen, wenn an Weihnachten eine Kirche angegriffen wird. Es hätte schließlich Ihre Kirche sein können. Vor den Anschlägen spielte die Religionszugehörigkeit keine Rolle. Ein Teil meiner Familie ist muslimisch, ein Teil christlich. Und ich bin kein Einzelfall. Muslime besuchten Christen, Christen Muslime. So war es normal. So ist es oftmals noch immer normal. Aber diese Normalität ist in Gefahr.
Fürchten Sie einen Krieg der Religionen in Nigeria?
George Ehusani: Verwechseln Sie ethnische oder ökonomische Konflikte nicht mit dem Kampf Christentum gegen Islam! Ein Beispiel: Die Kuh eines christlichen Bauern zerstört die Felder eines muslimischen Bauern. Die beiden beginnen zu streiten, am Ende brennen Häuser. Mit Religion hat dieser Konflikt nichts zu tun, es ging um Geld. Aber die Medien melden, dass ein Christ einen Muslim angegriffen hat. Das macht mich wütend. Die Leute sind nicht bereit, genau hinzusehen, was die Ursache ist. Christliche und muslimische Nigerianer haben 100 Jahre lang friedlich miteinander gelebt. Tür an Tür. Und jetzt soll das plötzlich nicht mehr funktionieren? Diese Krise ist nicht so einfach zu erklären. Sie hat ethnische, historische, ökonomische, teilweise religiöse Gründe. Die große Mehrheit der Muslime ist nicht radikalisiert.
Wie reagiert die muslimische Führung auf die Anschläge?
George Ehusani: Die muslimischen Führer haben lange geschwiegen. Nach dem Bombenanschlag in Kano aber haben sie realisiert, dass wir uns vereint gegen dieses Übel stellen müssen. Nun beginnen einige, den Terror öffentlich zu verurteilen.
Und was tut die Regierung?
George Ehusani: Die Regierung sollte die Ordnung wiederherstellen. Sie sollte die Hintermänner ausfindig machen, sollte ein Ende hinter diese Gewalt setzen. Sollte! Aber sie ist nicht in der Lage dazu. Wir haben keinen starken Staat. Wir haben kein starkes Sicherheitssystem. Die Menschen müssen sich selbst helfen. Und sie tun es. Kümmern sich selbst um ihr Wasser, ihre Elektrizität, ihre Transportmöglichkeiten – und ihre Sicherheit. Das ist ein Problem.
Was muss jetzt geschehen?
George Ehusani: Wir müssen versuchen, die Opfer zu beruhigen, damit die Situation nicht eskaliert! Wir müssen den Dialog mit den Muslimen am Laufen halten. Es gibt Gespräche zwischen Priestern und Imamen, aber nichts Institutionalisiertes. Ein Problem dabei ist, dass es keine zentralisierte Hierarchie im Islam gibt. Jeder Imam ist unabhängiger Führer seiner Gemeinde. Wir müssen versuchen, so viele wie möglich zu erreichen.
Wie sehen Sie die Zukunft?
George Ehusani: Wir Nigerianer sind noch keine wirkliche Nation. Es gibt keine starke nigerianische Identität, die über der individuellen Identität steht. Welche Werte und Normen machen uns zu Nigerianern? Eine Antwort auf diese Frage fehlt! Und solange sie fehlt, wird es Krisen geben.
Mehr Informationen…
George Ehusani war bis 2007 Generalsekretär der Nigerianischen Bischofskonferenz. Heute leitet der Priester eine Pfarrei in Abuja. Der Nigerianer beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen der Menschenrechte, Menschenwürde, Demokratisierung und guter Regierungsführung.