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Sie nennen ihn den Reisespezialisten

Wie alt er ist, weiß er nicht genau, aber wie man sich sieben Mal mit dem Zug von Chittagong nach Dhaka als blinder Passagier durchschlägt, das weiß der Junge. Das sind mal eben sieben Stunden beschwerlichster Reise, aber da ist er Experte.

Anis weiß nicht, wie alt er ist.

Anis weiß nicht, wie alt er ist.

Jetzt sitzt Anis mit mir auf den Stufen zur Slumschule des Notre Dame Colleges in Dhaka. Aber für ihn ist es noch ein weiter Weg bis in die Klassenzimmer. Der Straßenjunge ist ein besonders harter Fall – er hört kaum noch etwas. Seit zwei Jahren leidet er unter heftigen Ohrenschmerzen. Vor einem Monat ist er Straßensozialarbeitern im Bahnhofsviertel aufgefallen, die das kranke Kind dann nach „Notre Dame“ brachten. Denn hier gibt es nicht nur eine Schule für Kinder aus ärmsten Verhältnissen, hier gibt es das einzige Heim für Straßenjungen in ganz Dhaka. In Anis Fall aber fast noch wichtiger: Hier gibt es eine Gesundheitsstation, hier gibt es Ärzte, die ihn endlich behandeln. „Notre Dame“ ist wie gemacht für diesen Jungen. Die gute Nachricht zuerst: Er wird wahrscheinlich in einem Monat wieder hören können. Happy End? Noch lange nicht. Vor mir sitzt ein zerbrochenes Kind, dessen Geschichte mit heiterem Baden im Dorfteich beginnt und in häuslicher Gewalt und seinen Fluchten nach Dhaka ausartet. Aber der Reihe nach…

Anis badet im Teich wie jedes Kind auf dem Land. Doch vor zwei Jahren hört er danach auf einmal nichts mehr. Diesmal muss mein Begleiter nicht aufwändig übersetzen und erklären, was passiert ist: Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Ohrschmalz in seinem Gehörgang war aufgequollen und hatte einen dicken Pfropfen vor dem Trommelfell gebildet. Als mir das selbst vor zwei Jahren im Urlaub passiert, lasse ich mir einfach beim Arzt die Ohren ausspülen, fertig. Anis, der Sohn eines mittellosen Tagelöhners hat diese Chance nicht. Das Wasser hinter dem Pfropfen bleibt im Ohr und es kommt zu einer Infektion, die nie richtig behandelt wurde.

Und damit nimmt ein Familiendrama seinen Lauf.

Der Vater hält den Jungen, der immer schlechter hört, schlichtweg für verstockt, schlägt ihn immer wieder massiv. Anis Gesicht ist von Narben übersät, den Rest seines Körpers sehe ich nicht. Der Junge, der im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder, nie zur Schule gehen durfte, fühlt sich doppelt abgelehnt und ungeliebt. In seiner Verzweiflung reißt er aus und schlägt sich nach Dhaka durch. Sechs Mal geht er zurück, sechs Mal hofft er, dass sich der Vater doch freuen wird, ihn zu sehen, das es besser wird. Doch er wird wieder nach Dhaka „reisen“, dort auf dem Bahnhof wird er endlich den Straßensozialarbeitern auffallen, die ihn hierher bringen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hasan und Robiul sind schon länger im „Notre Dame“. Sie helfen Anis, sich einzufinden.

Hasan und Robiul sind schon länger im „Notre Dame“. Sie helfen Anis, sich einzufinden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wird Notre Dame sein neues Zuhause?

Wird Anis wieder Wurzeln schlagen können? Er ist erst seit vier Wochen hier, vier weitere Wochen Behandlung liegen vor ihm. Seine Ohrenschmerzen könnten am Ende doch noch etwas Gutes haben: Er will die Schmerzen los werden, er will wieder hören. Und er ist clever genug zu wissen: Die Chance bekommt er nie wieder. Er wird bleiben, bis er gesund ist, da bin ich sicher. Und setze danach auf seine neuen Freunde Hasan und Robiul. Sie sind schon länger im „Notre Dame“. Sie helfen Anis, sich einzufinden.

Anis großes Ziel: Die Jungs aus dem „Boy shelter“

Anis großes Ziel: Die Jungs aus dem „Boy shelter“

Denn das ist Anis großes Ziel  im Moment: Von der Krankenstation zu ihnen in den „boy shelter“ zu kommen, dem kleinen Heim für 30 Straßenjungen. Vor allem der kleine Hasan kümmert sich rührend um Anis, wiederholt langsam und deutlich, wenn der mal wieder nichts verstanden hat. Alle drei spielen leidenschaftlich gerne Fußball. Aber noch viel besser für Anis: Die Brüder sind schon ein bzw. zwei Jahre hier und – das ist meine Hoffnung – werden den kleinen Reisespezialisten, ein bisschen sesshafter machen. „Notre Dame“ ist seine Chance. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, dass er hier einen Platz findet, seinen Platz, wo er endlich Ruhe findet und lernen kann.

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Katrin Heidbüchel arbeitet als Referentin für Fundraising bei MISEREOR.

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