„12 Zeichen“, sagt Ma Yusheng, „Die Frau hat nur zwölf chinesische Zeichen gebraucht, um zu bekommen, was sie bekommen wollte“. Ma ist eigentlich ein Professor für Wirtschaft an der Parteihochschule von Linxia. Aber heute ist er der Trainer, der den gut 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus 20 verschiedenen chinesischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) beibringen soll, wie man mit der Regierung reden muss, wenn man von ihr unterstützt werden will. Dazu erzählt Ma eine Geschichte aus der Qing-Dynastie.
„Eine Witwe wollte die offizielle Erlaubnis, sich noch einmal zu verheiraten…“ fängt er an. „Geht nicht!“ ruft einer der Teilnehmer. Ma nickt zustimmend: Im feudalen China gehörte eine Frau in die Familie ihres Mannes. Eine erneute Heirat in eine andere Familie war so gut wie ausgeschlossen. „Also schrieb sie eine Eingabe“, nimmt Ma den Faden wieder auf „und sofort setzte der kaiserliche Beamte seinen Stempel unter die Genehmigung“. Was hatte die Witwe geschrieben?
„Der Ehemann ist tot und die Ehefrau jung, der Schwiegervater ist rüstig und der Schwager [schon] groß“ – dann nahm die Witwe Zuflucht zu einer klassischen Redensart, die besagt, man solle sich auf einem Melonenfeld nicht den Mantel neu ordnen und sich unter einem Pflaumenbaum nicht den Hut neu aufsetzen – um nicht ein Verdacht zu geraten, Früchte gestohlen zu haben. Oder allgememeiner: Man auf seinen Ruf achten – „ist es da nicht besser, [aus der Familie aus-] zu scheiden?“ Die Witwe droht dem Beamten indirekt damit, dass es in seinem Zuständigkeitsbereich zu Gerede kommen könnte, zu Familienstreitigkeiten und zu Verstössen gegen die herrschenden Moralvorstellungen. Heute, dass braucht Ma den TeilnehmerInnen nicht erst zu sagen, sind es „Massenvorkommnisse“ – Demonstrationen – und Verzweiflungstaten Einzelner, was die Regierung am meisten fürchtet. Also gilt es im Kontakt mit der Regierung, den Beitrag der eigenen Arbeit zur Förderung der gesellschaftlichen Sabilität zu unterstreichen.
Vorbereitung zum Spendensammeln
Im Anschluss organisiert Ma Rollenspiele: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen üben, bei verschiedenen Personen vorzusprechen – einem Regierungsvertreter, dem Leiter einer chinesischen Stiftung, einem Unternehmer, einem Restaurantbesitzer und dem Repräsentanten eines ausländischen Hilfswerks. Und danach wird es Ernst. In Kleingruppen müssen die Teilnehmenden Informationsmaterial vorbereiten, dann geht es raus aus dem Trainingsraum und hinein in die beiden nach südostchinesischen Wirtschaftsmetroploen benannten Yiwu- und Wenzhou-Handels-Städte, riesige Shopping-Malls. Um dort in den kommenden drei Stunden echte Menschen um echtes Geld zu bitten.
Erste Ergebnisse des Fundraisings
Die erste Gruppe hat 3.544 Yuan (ca. 435 Euro) gesammelt – und zwei „Doktoren“ getroffen, die zwar nichts spenden wollten, aber der eine, ein Pekinger Juraprofessor, hat kostenlose Rechtsberatung angeboten und der andere versprach, Projektanträge ins Englische übersetzen zu helfen.
Die zweite Gruppe hatte nicht viel Glück – sie bestand aus sechs Männern und lief zuerst in einem Geschäft in die Abteilung für Kosmetika – wo nur Verkäuferinnen arbeiten. Deswegen ist sie dort relativ schnell herausgeflogen und musste auf der Strasse weitersammeln. Ihr grösster Geldschein waren 50 Yuan (ca. 6,15 Euro), insgsamt waren nur 320 Yuan (ca. 40 Euro) in der Box.
Die dritte Gruppe hatte sich am Besten vorbereitet, sich gut gekleidet, ein großes Plakat gemalt und sogar eine mit arabischer Kalligraphie beklebte Sammelbox gebastelt. Trotzdem gab es auch in dieser Gruppe einige „Anfängerfehler“: Eine sehr energische junge Muslimin erzählte: „Ich bin also auf die Verkäufer zugegangen und habe ganz laut Salam Aleikum gesagt. So laut, dass alle anderen Verkäufer hingeschaut haben, und der dann nicht mehr wegkam, ohne was zu spenden.“ Wer so vorgeht, der bekommt wahrscheinlich nur ein einziges Mal was. Und dann nahm Ma Li, so heißt die junge Frau, es persönlich, wenn jemand nichts spenden wollte. „Was?“ fuhr sie einen Verkäufer an, der recht unfreundlich erklärt hatte, dass er für seinen Verkaufsstand 100 Yuan Miete am Tag zahlen müsse und bisher noch nicht mal so viel verdient habe. „Was sagst Du? Das ist doch für muslimische WAISENkinder! Du hast keine 100 Yuan, ja? Jetzt pass mal auf: Dann geb ich sie Dir!“ – bevor sie dann eine ihrer etwas sanftmütigeren Freundinnen wegziehen konnte. Immerhin kamen mit dieser aggressiven Methode 8.140 Yuan (ca. 1000 Euro) zusammen.
Die vierte Gruppe bekam für Bildungsarbeit im Erdbebengebiet von Dingxi nur 200 Yuan, dafür aber säckeweise Sachspenden: 40 Bleistifte, sechs Kisten Radiergummis, 70 Jeanshosen, 199 T-Shirts und 50 Paar Socken… wobei die Gruppe für letztere zwei Yuan das Paar ansetzte, insgesamt einen Gesamtwert von 11.900 Yuan (ca. 1.465 Euro) errechnete und sich so zum Sieger erklärte.
In kleinen Schritten zum Erfolg
Verglichen mit den 3.400.000.000.000 US-Dollar, die die chinesische Regierung in ihrer Zentralbank langert, ist das immer noch noch nicht sehr viel. Aber wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Professor Mas Training in Zukunft genau so geschickt mit Regierungsvertretern reden, wie das die Wiwe in der Qing-Dynastie getan hat, und weiter so fleißig und motiviert sind, dann besteht doch die Hoffnung, dass sie in Zukunft gar kein „ausländisches“ Geld mehr für ihre sozialen Aktivitäten brauchen.