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Syrien: „Eine noch nie dagewesene Tragödie“

Bis vor drei Jahren war Syrien ein Land, in dem viele Flüchtlinge – vor allem aus dem Irak – Zuflucht fanden. Bis die Regierung im Jahr 2011 gegen die friedlichen Proteste für Demokratie und Freiheit gewaltsam vorging. Inzwischen bekämpfen sich Regierung und Opposition gewaltsam. Auf beiden Seiten mischen andere Länder kräftig mit. Und Millionen Syrer sind nun selbst auf der Flucht.

Zur aktuellen Lage sprachen wir mit einem Mitarbeiter einer kirchlichen Partnerorganisation in Damaskus, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben muss.
Mutter mit Kind, Flüchtlingslager Irak.

Wie ist das Leben zurzeit in Syrien?

Die Kämpfe breiten sich aus, das macht das Leben sehr schwer. Wie katastrophal die Situation ist, mag Ihnen folgendes Beispiel verdeutlichen: Durch den Krieg sind zwei Millionen Häuser zerstört worden. Das bedeutet: Zwei Millionen Familien befinden sich auf der Flucht im In- und Ausland. Das ist die Hälfte aller Syrer. Jene, die bleiben, sterben still. Für 2014 haben wir in unserer Organisation nur ein neues Projekt. Und das besteht darin, einen großen Friedhof zu bauen. Auf unserem bestehenden Friedhof ist kein Platz mehr. Wir erleben eine noch nie dagewesene Tragödie!

Fühlen Sie sich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt?

Die Welt interessiert sich vor allem für die Chemiewaffen. Aber man darf zugleich nicht vergessen, dass durch konventionelle Waffen viel mehr Menschen getötet wurden – inzwischen sind es 130.000 – , als durch die schrecklichen Chemiewaffen. Vergessen wird oft auch das Elend der Menschen, denen es am Nötigsten fehlt. Die Flüchtlinge, die in den Libanon, die Türkei, nach Jordanien, Deutschland, Frankreich oder in die USA geflohen sind, erhalten oft Hilfe. Aber die Flüchtlinge innerhalb Syriens erhalten keine bzw. viel zu wenig Unterstützung.

Woher kommt denn überhaupt Unterstützung?

Meist von der eigenen Familie. Sie ist der wichtigste Rückhalt und oft genug die einzige Hilfe. Die Flüchtlinge werden vom Bruder, von Tante oder Onkel aufgenommen, wenn sie ihr Zuhause verloren haben. Viele erhalten auch finanzielle Unterstützung von Familienmitgliedern aus dem Ausland.

Wie wirken sich die internationalen Sanktionen auf das Leben in Syrien aus?

Wegen des Embargos für die syrischen Banken kann kein Geld mehr nach Syrien überwiesen werden. Das ist das größte Problem. Die Syrer, die im Ausland arbeiten, können ihren Familien innerhalb des Landes nicht mehr helfen. Was das für Konsequenzen hat, weiß kaum jemand, denn Journalisten dürfen das Elend vor Ort oft nicht filmen. Man spricht von der Friedenskonferenz Genf II, man spricht von Politik, von Waffen. Zu wenig hört man von den Menschen, die auf der Straße sterben, von geschlossenen Schulen, zerstörten Kirchen und Binnenflüchtlingen ohne ausreichend Nahrung und medizinische Versorgung. Zahlreiche qualifizierte Mediziner haben das Land verlassen, für die Versorgung von Verwundeten fehlt es an Narkosemitteln, Medikamenten, Sauerstoffflaschen.

Gibt es angesichts dieser Situation etwas, das Sie zuversichtlich macht?

Wir haben die Hoffnung nicht verloren. Mit moralischer Unterstützung durch Papst Franziskus, der zum Frieden mahnt, engagieren wir uns für bessere Lebensbedingungen und sind dabei, uns auf die Zeit nach dem Krieg vorzubereiten. Wir müssen vor allem versuchen, der Jugend die Möglichkeit zu geben, ihre Zukunft zu gestalten.

Die Rolle der Religion scheint immer größer zu werden, je länger der Konflikt andauert. Wie ist das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen im Alltag?

Wir arbeiten ökumenisch zusammen. Das ist wichtig! Wir dürfen uns durch diesen Krieg nicht auseinanderbringen lassen. Es gibt viele kleine Dinge, die man tun kann, ohne dabei gleich von Gott, Theologie und ähnlichem zu reden. Ein wichtiges Bindeglied ist aber beispielweise die Verehrung der Muttergottes. Der 25. März ist mittlerweile das größte Muttergottesfest, das sowohl von den Christen als auch von den Muslimen in Syrien als nationaler Feiertag begangen wird. Aber wenn die Gewalt in Syrien nicht endet, könnten es die Extremisten tatsächlich schaffen, den interreligiösen Dialog zu beenden. Noch ist es so, dass sich Muslime, wenn sie angegriffen werden, bei Christen verstecken und umgekehrt.

Sie selbst stammen aus dem Libanon, wo Sie Pfarrer in einer Gemeinde waren, in der Christen und Muslime lebten.

Ja, wir wohnten neben Muslimen, gingen zusammen in die Schule, hatten denselben Arzt. Wir haben viele Dinge des alltäglichen Lebens miteinander geteilt.

Was ist Ihnen bei diesen gemeinsamen Aktivitäten besonders in Erinnerung geblieben?

Der Dialog des Lebens. Das bedeutet: Wenn Ostern war, kamen die Leute zu mir, um zu gratulieren. Und wenn Ramadan war, feierte ich gemeinsam mit meinen Nachbarn. Wenn ein Kind schlecht Französisch sprach und ein anderes Kind gut, dann half das eine dem anderen, unabhängig von der jeweiligen Religion. Der gegenseitige „Nachhilfeunterricht“ stärkte die Verbindungen zwischen den Familien. Und je besser man sich kennt, desto schwerer kann Hass entstehen.

Das Interview führte Petra Kilian und Maria Haarmann


Mehr Informationen…

… zur Lage in Syrien und der Arbeit der MISEREOR-Partnerorganisationen finden Sie unter https://www.misereor.de/spenden/spendenaufrufe/syrien-irak-naher-osten/


Mehr lesen zum Thema Syrien…

…können Sie unter blog.misereor.de/tag/syrien/


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Petra Kilian arbeitet im Berliner Büro von MISEREOR.

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