Von der Konferenz: „People helping People: Peoples Forum on International Social Responsibility“ in Peking
Am Vormittag
„Wir sind die ersten, die die Millenniumsziele erreicht haben! Und wir sind dazu bereit, unsere Erfahrungen zu teilen“, verspricht Zheng Wenkai, Vizedirektor der State Council Leading Group im Büro für Armutsbekämpfung und Entwicklung. Von der gleichen Rednertribüne aus, auf der Zheng jetzt steht, haben – wie Fotos auf dem großen Flachbildschirm im Foyer des „Overseas Exchange Center“ der Peking Universität zeigen – auch schon Tony Blair und Hamid Karzai ihre Erfahrungen geteilt.
Welches Land zwischen 1990 und 2015 den Anteil der Menschen, die mit weniger als dem Gegenwert von 1,5 US-Dollar pro Tag auskommen müssen, zuerst halbiert hat, ist eine Frage der Statistik. Ein Beispiel: 2007 lag die chinesische Armutsgrenze bei einem pro-Kopf-Einkommen von 1.067 Yuan im Jahr. Deswegen gab es damals etwas über 20 Millionen Arme. 2009 wurde die Grenze auf 1.196 und im 12. Fünfjahresplan (12/5, ab 2011) auf 1.500 Yuan angehoben: Inzwischen gibt es deswegen wieder über 90 Millionen Arme.
Aber selbst die zwei Mal angehobene Armutsgrenze des 12/5 liegen nicht nur weit unter den 1,5 US-Dollar am Tag, sondern sogar noch deutlich unterhalb der Armutsgrenze viel ärmerer Länder, wie etwa Vietnam. Wird die international gebräuchliche Armutsgrenze zugrunde gelegt, lebten in China über 150 Millionen Menschen in Armut. Deutlich mehr als 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Andererseits waren das 1990 – egal welche Statistik zu Grunde gelegt wird – tatsächlich mehr als doppelt so viele.
70 Prozent der „Armen weltweit“ leben in den vier Schwellenländern Brasilien, China, Indien und Südafrika
– wobei das brasilianische pro-Kop-Einkommen knapp doppelt so hoch wie das chinesische ist. Was die „Ungleichverteilung“ des Einkommens angeht, ist die in Südafrika (und Brasilien) erheblich größer als die in China. Und China gibt einen kleineren Anteil seines Bruttoinlandsprodukts für das Militär aus als Indien (und liegt auch deutlich unter dem Weltdurchschnitt).
Bei dem heutigen „People’s Forum on International Social Responsibility“ geht es aber eigentlich gar nicht um Entwicklungsziele oder die Frage, warum bei 150 Millionen Armen immer mehr Länder die Entwicklungszusammenarbeit mit China beenden. Laut ausliegenden Konferenz-Manual geht es darum, wie die Sicherheit der rund 2.300 Milliarden US-Dollar Auslandsinvestitionen von 22.000 chinesischen Unternehmen sowie der 83 Millionen chinesischen Touristen, die jetzt jedes Jahr ins Ausland reisen, gewährleistet werden kann.
Die Chinesische Stiftung zur Armutsminderung (CFPA), deren Internationale Abteilung die heutige Konferenz organisiert hat, wurde im März 1989 gegründet – böse Zungen würden sagen, vor allem dafür, um alten Kadern etwas zu tun zu geben, dass sie sich nicht mehr in die Politik einmischen. Anfangs beschränkte sich die Rolle der CFPA darauf, zusätzliche Gelder für die staatlichen Armutsbüros zu beschaffen. Inzwischen ist aus der CFPA jedoch die chinesische Stiftung geworden, die sich am Stärksten für die Belange der chinesischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) einsetzt. So war die CFPA nach dem Erdbeben in Yushu (2010) die einzige chinesische Stiftung, die sich rundheraus weigerte, der Forderung der Provinzregierung Qinghais nach der Herausgabe sämtlicher privater und Unternehmens-Spendengelder (zur „Koordination des Wiederaufbaus“) Folge zu leisten. Und sie gab gleich noch eine Studie in Auftrag, die untersuchen sollte, welcher Teil der Spendengelder nach dem Erdbeben in Sichuan (2008) letztendlich doch wieder auf Regierungskonten zurückgeflossen war.
Wenn deswegen He Daofeng, der Executive President der CFPA, auf die Rednertribüne tritt, dann hören die Teilnehmer auf, auf ihren Smartphones herumzuwischen und ausnahmsweise einmal zu. „Ist die ganze Welt ein Markt, auf dem jedes Land seinen eigenen Vorteil verfolgt?“ fragt He. „Das chinesische pro-Kopf-Einkommen ist von 200 US-Dollar zu Beginn der Reform- und Öffnungspolitik auf aktuell 6.000 gestiegen. Aus 14 Prozent, die damals etwas anderes als Landarbeit machten, wurden 66. Innerhalb von 30 Jahren stieg der Anteil der Stadtbevölkerung von 10 auf 52 Prozent…“, sagt He.
Ländliche Altersversorgung in China
Allerdings hören He doch nicht alle zu. Xie Lihua, Gründerin der Pekinger NGO Rural Women flüstert mir ins Ohr, wie die Nachhaltigkeit eines Dorfaltenheims in der Provinz Hubei verbessert werden konnte: „Wir haben [die Gebühren] jetzt auf [monatlich] 500 [Yuan] erhöht. Manche noch nicht ganz so Alten arbeiten mit und bekommen dafür 200… wir haben schon 30 Alte, und die von der Lokalregierung, die hängen ein Schild nach dem anderen auf und schenken was…“
Die ländliche Altersversorgung ist in China immer noch Aufgabe des Sohnes – oder besser gesagt, der Ehefrau des Sohnes. Wer keinen Sohn hat, oder wessen Sohn auf Wanderarbeit ist und nicht genug verdient oder genug verdient aber sich nicht kümmert, der gerät in Armut. Rural Women war während der Arbeit zur Selbstmordprävention für Frauen auf dem Land – wo China nach Bangladesh weltweit die höchste Rate aufweist – auf diesen Missstand aufmerksam geworden und hat, mit MISEREORsUnterstützung, ein Modellaltenheim aufgebaut.
Rural Women finanziert sich allerdings trotz der „erhöhten Gebühren“ nur zu knapp einem Viertel aus chinesischen Quellen. Der Rest kommt aus dem Ausland. In drei bis fünf Jahren sei eine 1:1 Stuktur zu erreichen, hält der Jahresbericht 2012 fest. Ein ehrgeiziges Ziel: Bisher beläuft sich der der Anteil der Privatspenden auf genau 322.511,65 Yuan – nur sechs Prozent des gesamten Einkommens der mit 20 fest angestellten MitarbeiterInnen und 31 Projekten für chinesische Verhältnisse grossen NGO.
Sechs Prozent sind nicht viel. Aber es ist immerhin mehr, als was der chinesischen Regierung die Bildung der auf dem Land zurückgelassenen Mädchen, Frauenalphabetisierungskurse, Verbesserung der politischen Partizipation von Frauen und die Stärkung der Rechte von Haushaltshilfen wert ist: „Was die Regierungsgelder angeht konnte bislang kein Durchbruch erzielt werden,“ bedauert der Jahresbericht. Ohne ausländische Entwicklungshilfegelder müsste Rural Women schliessen.
Diplomatie ist immer weniger eine Sache des Außenministeriums, sondern vielmehr der Allgemeinheit
„Wenn unsere Leute im Ausland den ganzen Boden vollgespuckt und alles vollgepisst haben, was macht das für einen Eindruck? Diplomatie ist immer weniger eine Sache des Außenministeriums! Warum machen wir keinen NGO-Austausch, oder spenden was für Südostasien oder Afrika? Anstatt teuere Taschen einzukaufen? Chinesen kaufen jedes Jahr im Ausland Luxusprodukte im Wert von über 60 Milliarden US-Dollar! Daher kommt das Wort tuhao [tu für Land, hao für Luxus]. Wir sollten uns nicht wie Neureiche aufführen!“ Und mit diesem Aufruf beendet He seine Rede.
Patrick Havermann vom UNDP sagt zwei Mal, dass wir nur einen Planet haben und liest den Rest seiner Rede – viel zu schnell und auf Englisch, für die gut 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer völlig unverständlich – von einem Zettel ab. Derweil entwirft eine chinesische Teilnehmerin gegenüber mir leise geflüsterte Pläne, wie „mit ausländischer Milch“ aufgezogene chinesische NGOs international tätig werden sollen, wo noch nicht mal ihr Weiterbestehen in China gesichert sei: Angesichts des sinkenden Spendeneinkommens und abwandernder Geberorganisationen…
Vor allem Auslandschinesen spenden für den Bildungsbereich
Mit dem Spendeneinkommen ist das so eine Sache: Wenn man vom Osttor der Peking Universität in Richtung Oversees Exchange Center geht, kommt man zunächst an dem Lee Shao Kee Building (benannt nach dem Hongkonger Immobilien-Tycoon) und dann an dem Khoo Teck Puat Sports Complex (benannt nach dem Singapurer Banker) vorbei. Und weiß damit bereits das Wichtigste über den chinesischen Spendenmarkt – vor allem Auslandschinesen spenden vor allem im Bildungsbereich – der reicht von Patenschaften für begabte Kinder bis hin zu Universitätsgebäuden.
Für das „Freundschafts-Paket“-Projekt der CFPA, bei dem armen Grundschülern entweder eine Kunst-Schultasche (mit Buntstiften und Malheften) oder eine Sport-Schultasche (mit Bällen und Springseilen) gekauft wird, spendeten innerhalb der ersten acht Monate mehr als eine Million Chinesinnen und Chinesen und 40.000 Unternehmen. Über 130 Millionen Yuan. Womit selbst die CFPA-Mitarbeiter gar nicht gerechnet hatten. Das Verschenken bunter Ranzen genügt nicht gerade den Anforderungen an ein „Hilfe zur Selbsthilfe“-Projekt.
Oder als der Staatsrat Anfang 2011 einen Bericht veröffentlichte, wonach in Armutsgebieten Zentral- und Westchinas die Ernährungslage von Schulkindern so schlecht sei, dass 72 Prozent hungrig im Unterricht säßen, 12 Prozent in ihrem Wachstum beeinträchtigt und in Schulwohnheimen untergebrachten Kinder im Vergleich zu Altersgenossen zehn Kilogramm (Jungen) oder sieben Kilogramm (Mädchen) leichter seien, bekam die Internet-Initiative „Free Lunch for Children“ innerhalb von zweieinhalb Jahren über 70 Millionen Yuan gespendet. Und das, obwohl „Free Lunch for Children“ in Xinjiang gar keine, in Tibet eine und in Qinhai nur zwei Partnerschulen hat und somit in Westchina eigentlich gar nicht präsent ist.
NGO-Arbeit abseits des Spendenflusses
Müssten sich chinesische NGOs in ihrer Arbeit auf das beschränken, wofür in China großzügig gespendet wird und was „politisch unbedenklich“ ist, dann müssten sie einen Großteil ihrer Arbeit einstellen. Die Arbeit mit Erwachsenen würde sich wahrscheinlich auf Mikro- und Kleinkredite beschränken, die Gebiete der „Nationalen Minderheiten“ blieben außen vor. Zum Glück entsprechen Chinas Erfahrungen aber nicht denen Karzais, dem von der US-Diplomatie klar gemacht wurde, dass ihn eine Nichtunterzeichung des troop status accord acht Milliarden Dollar kosten und weitere vier Milliarden nicht-militärische Entwicklungshilfe „gefährden“ würde… im Gegensatz zu Afghanistan „braucht“ China kein ausländisches Geld. Und trotzdem: Chinas NGOs sind viel zu wichtig und haben ein viel zu großes Potential, als dass ihre Förderung jetzt schon ganz der chinesischen Regierung, den chinesischen Unternehmen oder Spenden chinesischer Privatpersonen überlassen werden sollte. Das ist bei dem heutigen „People’s Forum“ deutlich geworden. Obwohl das auch nicht dem entspricht, was Blair hier gesagt haben wird. Denn der sieht in wachsenden „Privatsektoren“ und „Investitionsanreizen“ die Lösung aller Probleme. Für ihn ist Hilfe sei in erster Linie dazu da, die Hilfe zu beenden.