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„WM in Brasilien – keine runde Sache!“

Noch knapp 100 Tage sind es bis zum Beginn der Fußball-WM 2014, die die Brasilianer „Copa“ nennen (portugiesisch für Copa do Mundo FIFA). Als das Land 2007 zum Gastgeber der WM 2014 erkoren wurde, war die Begeisterung groß. Mittlerweile hat die Euphorie einer Ernüchterung Platz gemacht. Im Interview spricht Brasilien-Referent Alexander Riesen über Gewinner und Verlierer der „Copa“.

Millionen Fans freuen sich auf die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien. Vielen Brasilianern ist die Freude jedoch mittlerweile vergangen. Was läuft schief bei der „Copa“?

Alexander Riesen

Alexander Riesen

Alexander Riesen: Die WM ist an sich natürlich eine schöne Sache. Während der Vorbereitungen kam es jedoch zu Menschenrechtsverletzungen, einer  immensen Verschwendung öffentlicher Gelder und zu Vertreibungen. Viele sozial benachteiligte und arme Bevölkerungsgruppen wurden aus  Innenstadtgebieten der großen Städte vertrieben. Oder anders ausgedrückt: an die Stadtränder umgesiedelt. Manchmal gab es dafür noch nicht einmal einen Gerichtsbeschluss. Manchmal mussten die Bewohner innerhalb von Minuten ihre Sachen packen. Das ist schon extrem. Man schätzt, dass an den zwölf Austragungsorten insgesamt bis zu 250.000 Menschen von Umsiedlungen betroffen sind.

Welche Folgen hat das für die Einzelnen?

Alexander Riesen: Manche Familien erhielten kleine Entschädigungen. Aber viele wurden ohne Kompensation umgesiedelt. Die „Copa“ ist oft genug ein Katalysator, um städtebauliche Projekte schneller voranzutreiben, die man ohne die WM nicht so einfach hätte umsetzen können. Mit dem Totschlagargument „Die WM kommt, da müssen wir bauen“ werden Trassen durch Stadtteile gezogen und ganze Wohnviertel plattgemacht. In São Paulo zum Beispiel leben manche nun 60 Kilometer von ihrem alten Zuhause entfernt in Gebieten ohne Infrastruktur, ohne richtige Anbindung an Schulen und öffentlichen Nahverkehr.

Im Rahmen des Regierungsprogramms „Minha Casa, Minha Vida“ werden den Umgesiedelten aber neue Häuser zur Verfügung gestellt.

Alexander Riesen: Das stimmt. Allerdings sind das einfachste, kleine Häuser mit ca. 40 Quadratmeter für die ganze Familie, in trostlosen Siedlungen ohne Bäume – und weit weg vom alten Zuhause. Das heißt, die Teilnahme am öffentlichen Leben, also Arbeit, Schule, Sport, Gesundheit, ist von dort aus unmöglich. Denn meist liegen die Arbeitsplätze ja im Zentrum. Wenn Sie aber zwei bis drei Stunden brauchen, um zu Ihrem Arbeitsplatz zu kommen, ist es erstens sehr aufwändig und zweitens sehr teuer. Für die Schulkinder gilt dasselbe: Die Wege sind weit, die Fahrt kostet viel. Auch der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen ist  in diesen neuen Siedlungen problematisch. Aber das ist ja nur ein Teil der WM-Problematik. Das andere sind die unglaublich hohen Kosten, die für den Staat entstehen. Man schätzt, dass allein der Umbau der Stadien 2,5 Milliarden Euro kostet. Für das gesamte Paket, also Umbauten, Neubauten, Straßen und Flughäfen hat Brasilien schätzungsweise über elf Milliarden Euro investiert.

Hoteliers und andere aus der Tourismusbranche werden aber doch auch von den Fußballfans profitieren.

Alexander Riesen: Aber nur vier Wochen lang. Und die Touristen, die kommen, werden auch keine Milliarden ins Land bringen.

Profitieren von den Investitionen in Infrastruktur nicht auch die Brasilianer selbst?

Alexander Riesen: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Manaus wurde für vier Gruppenspiele ein komplett neues Stadion gebaut – für 224 Millionen Euro. Dabei spielt der örtliche Club nur in der vierten Liga. Im Schnitt kommen 500 Fußballfans zu den Spielen. Das Stadion aber ist für 43.000 Besucher gebaut. Auch in Natal ist die Situation ähnlich. Die Summen, die für die WM ausgegeben werden, sind Wahnsinn! Hinzu kommt, dass viel Geld durch Korruption verloren geht. Geld, das dann bei den einfachsten Investitionen im Bildungs- und Gesundheitsbereich fehlt. Dagegen waren schon im Juni 2013 Zehntausende auf die Straßen gegangen. Die Protestwelle entzündete sich zwar zuerst an der leichten Erhöhung der Buspreise. Aber dahinter lag die Problematik, dass die öffentlichen Gelder eben in einem bisher nie dagewesenen Maß ausgegeben werden. Anders gesagt: Es soll die teuerste WM aller Zeiten werden. Südafrika hatte 2010 ein Drittel davon gebraucht. Und selbst das war schon teuer. Nach der WM blieb das Land auf mehreren Milliarden sitzen, während die FIFA große Gewinne einstrich. Das ist jetzt bei der „Copa“ auch zu befürchten. Man schätzt, dass die FIFA um die drei Milliarden Euro Gewinn machen kann. Für hochproblematisch halte ich auch die Verträge, die die FIFA mit den Austragungsländern abschließt. Sie vergibt die WM nur in Länder, die bereit sind, bestimmte Gesetze zu verabschieden und der FIFA so besondere Rechte einzuräumen. In Brasilien heißt dieses Gesetz “ Lei Geral da Copa“. Und mit dem Lei Geral da Copa werden Grundrechte außer Kraft gesetzt.

Was bedeutet das?

Alexander Riesen: Nun, neben den bereits angesprochenen Vertreibungen gibt es Bannmeilen um die Stadien. Im Umkreis von 2.000 Metern um die Austragungsstätten dürfen Straßenhändler und Straßenhändlerinnen nichts mehr verkaufen. Damit treffen die Gesetze gerade die sozial Schwachen. Und die Sponsoren profitieren. Auch Presse- und Informationsfreiheit sind eingeschränkt, Demonstrationen verboten. Das sind einige Beispiele. Josef Blatter, der Präsident der FIFA, hat selbst einmal gesagt, dass es in demokratischen Ländern immer schwieriger wird, Spiele auszurichten. Da wundert es wenig, dass die folgenden WMs in Staaten mit problematischem politischen Gefüge stattfinden werden: in Russland und Katar.


Mehr Informationen…

Während der Vorbereitungen zur Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien haben sich  „Comitês Populares da Copa“ gebildet. Auch MISEREOR-Partnerorganisationen sind darin Mitglieder. Diese Basiskomitees kämpfen an den zwölf Austragungsorten gegen Vertreibung, Umsiedlung und Verletzung der verfassungsmäßig garantierten Rechte. Und sie hinterfragen rechtliche Anordnungen.

Kick for One World: Beim bundesweiten Zusammenschluss KoBra (Kooperation Brasilien) erhalten Sie weiterführende Informationen zur WM und Olympia 2016, zu Anti-Terror-Gesetzen, fairplay und Sicherheitskonzepte.


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Petra Kilian arbeitet im Berliner Büro von MISEREOR.

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