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Schule der Zukunft – 5 Jahre nach dem Erdbeben in Haiti

Als die Erde zu beben beginnt und ihre Füße auf dem trockenen Boden des Hanggartens kaum noch Halt finden, ist die zierliche Jean Ezila Kenezo im sechsten Monat schwanger. „Ich wusste nicht, was da gerade passiert und habe vor Angst geschrien. Ich habe immer nur an meine Familie gedacht“, sagt die 47-Jährige. Die anderen Kinder, gerade sind die letzten aus der Schule nach Hause gekommen, retten sich rechtzeitig ins Freie – während das schwerste Erdbeben in der Geschichte Haitis mehr als 250.000 Menschen unter Trümmern begräbt.

Jean Ezila Menezo (47 Jahre), Grand Boulage, Haiti; Foto: Florian Kopp

Jean Ezila Kenezo hat geholfen, die Schule ihrer Kinder wieder aufzubauen. Fotos: Florian Kopp

Wie durch ein Wunder bleibt die gesamte Familie Kenezo, bleiben die Menschen in Grand Boulage, einer Gemeinde in der kargen Berglandschaft 40 Kilometer nordöstlich von Port au Prince, an diesem Tag im Januar 2010 unversehrt. Die Schule der Gemeinde ist jedoch zerstört, ihre Mauern bis auf die Grundsteine eingefallen. „Vor Sorge, dass das Beben zurückkehrt, haben wir die ersten Nächte auf dem Platz vor der Kirche geschlafen“, erzählt Jean Ezila und dreht den goldenen Ehering an ihrer linken Hand nervös hin und her. Am Tag, im Schutz der alten Flammbäume oder in den Ruinen, werden die Kinder der Gemeinde provisorisch unterrichtet. Es fehlt an Platz und Materialien.

Eine Gemeinde baut seine Schule eigenhändig wieder auf

Fast fünf Jahre später macht Jean Ezila ihre Tochter Marie Josianne für die Vorschule fertig. Geduldig flicht sie dem Mädchen glänzende Stoffbänder in das schwarze Haar. Rote Schleifen aus Plastik zieren die sorgsam geflochtenen Zöpfe. Jean Ezila ist stolz auf ihr Schulmädchen, „am liebsten singt sie“ sagt die Mutter, während Marie Josianne von dem hellblauen Plastikstuhl aufspringt und nach ihrem Rucksack greift. Dass sie heute in eine neue Schule gehen kann, ist das Ergebnis eines steinigen Wiederaufbauprozesses.

Marie Josianne Kenezo (4 Jahre) lernt bereits in den neuen Klassenräumen der Schule von Grand Boulage, Haiti; Foto: Florian Kopp

Marie Josianne Kenezo (4 Jahre) lernt bereits in den neuen Klassenräumen der Schule von Grand Boulage.

„Meine Aufgabe war es hauptsächlich, Materialien wie Sisal, Erde für die Spachtelmasse und Steine für den Sockel und die Wände herzubringen und einzuarbeiten“, erklärt Menol, der Vater der vierjährigen Vorschülerin. Er streicht mit den langgliedrigen Fingern immer wieder über die kleine Bruchsteinmauer, die das bunte Gebäude der Vorschule umgibt. Auf 276 Quadratmetern sind drei Klassen für Kinder von drei bis sechs Jahren und ein Verwaltungsraum entstanden, seit September findet in der Vorschule der Unterricht statt. Aus einem Klassenraum tönt das Alphabet, bunte Zeichnungen und Bänder schwingen an der Veranda im Wind. Die Holzstreben und die Treppe ins Obergeschoss leuchten grell-grün, blau, gelb und orange. Hier und da sind sie, wie auch der Dachsims, mit feinen Zierleisten geschmückt. Ein bunter Farbfleck inmitten der Berglandschaft.

Traditionell-haitianische Bauweise statt Beton

chule von Grand Boulage, Haiti; Foto: Florian Kopp

Die Familien von Grand Boulage entschieden nicht nur über Formen und Farben der Schule, sonder auch über Lehnmaterialien und -inhalte mit.

Die „Schule der Zukunft“ in Grand Boulage ist ein Pilotprojekt. Alles an und in der Vorschule wurde innerhalb der Gemeinde, mit Eltern, Lehrern und Schülern, abgestimmt. Wenn möglich, wurde das Baumaterial lokal produziert und unter Anleitung in Eigenverantwortung verarbeitet. Wasser für die Spachtelmasse musste von dem abgelegenen Brunnen hunderte meterweit auf den Köpfen transportiert, tausende Steine an den steilen Hängen gesucht, in der Hitze zurecht geschlagen und in den Sockel eingefasst werden. Das Holz wurde auf Eseln über die holprige Serpentinen in den Ort geschafft, zugesägt, zu Rahmenkonstruktionen, Dachbalken oder den feinen Verzierungen verarbeitet. Ein Vorteil dieser traditionell haitianischen Bauweise: Lokale Materialien sind fast 30 Prozent günstiger als importiertes Material oder Zement. Zudem werden Gemeindemitglieder wie Menol handwerklich ausgebildet, um auch in Zukunft ähnliche Bauten umsetzen zu können. „Wir sind sehr stolz auf das Ergebnis“, sagt er, während sein Blick über die steinerne Fassade des Gebäudes wandert.

Dabei waren der 48-Jährige, der Ortspfarrer und viele andere Dorfbewohner zunächst skeptisch, als das Bildungsbüro der Diözese Port-au-Prince (BDE) und MISEREOR den Vorschlag machten, die Schule auf die traditionelle Weise wiederaufzubauen. „Die Menschen in Haiti haben nach dem Beben miterlebt, wie Hilfsorganisationen tausende Fertigbetonhäuser aufstellten“, erklärt BDE-Mitarbeiter Yves Mozart Réméus, während er auf einer alten Schulbank unter einem großen Flammbaum Platz nimmt. „Natürlich fragen sie sich da, warum sie selbst Steine klopfen, Holz zusägen und Sand verarbeiten sollen.“ Beton ist auf Haiti außerdem noch immer beliebtes Symbol für Fortschritt und gesellschaftlichen Aufstieg.

Die Kinder sollen keine Angst mehr haben müssen

Mehr als ein Jahr dauern schließlich die Gespräche zwischen dem Planungskomitee der Gemeinde, den zuständigen Architekten und dem BDE. Dass die Schule durch Elemente wie Steinsockel, Kreuzverstrebungen aus Holz und ein leichtes Blechdach besser gegen Beben und auch Stürme gewappnet ist, überzeugte schließlich auch Jean Ezila. Sie hat noch immer Angst, das Erdbeben könne zurückkehren nach Grand Boulage, nach Haiti und ihr Haus.

Jean Ezila (Mutter, 47 Jahre) mit Menol (48 Jahre) und ihren vier jüngeren Kindern vor der Schule von Grand Boulage, Haiti; Foto: Florian Kopp

Die Familie Kenezo ist stolz auf den neuen Schulbau, den die Gemeinde im September eröffnen konnte.

Wieder steht sie in dem Hanggarten zwischen Bohnenpflanzen, Süßkartoffeln und Mais. Seitdem ihr Ehemann Menol grünen Star hat und seinen Beruf als Lehrer an der Schule aufgeben musste, versorgt sich die Familie über die Parzelle, besitzt ein paar Kühe und Hasen. Der steinige und trockene Boden saugt das Wasser auf wie ein Schwamm, in einer Zisterne sammelt die Familie Regen für Obst und Gemüse. „Bleibt der aber in einer Dürrephase aus, müssen wir kämpfen“, sagt Jean Ezila und wischt sich in der brütenden Mittagssonne den Schweiß von der Stirn. Seit Monaten hat es in Haiti nicht mehr richtig geregnet. Dazu komme das Schulgeld für fünf Kinder, für die Uniformen von Marie Josianne und ihren Geschwistern. „Aber wir tun alles dafür, dass unsere Kinder zur Schule gehen können, damit ihnen alle Möglichkeiten offen sind. Sie sollen später keine Angst um ihre Zukunft oder ihre Familien haben müssen“.


Mehr erfahren…

… über die MISEREOR-Nothilfe für Haiti

Seit dem schweren Erdbeben im Januar 2010 hat das Hilfswerk Misereor den Wiederaufbau des Landes mit rund 16 Millionen Euro unterstützt. Unmittelbar nach dem Beben wurden dafür gesorgt, dass der Unterricht an den teilweise völlig zerstörten Schulen in Haiti weitergeführt werden konnte: Misereor finanzierte Lehrergehälter, schaffte Lernmaterialien an und renovierte Klassenräume. Grand Boulage ist die erste Schule, die in Eigenregie der Gemeinde und aus lokalen Materialien hergestellt werden konnte – sie soll in Zukunft als Referenzbau für weitere Schulen dienen. Zudem wurden rund 840 Häuser errichtet bzw. repariert, Handwerker ausgebildet, agrarökologische Projekte, Wiederaufforstungsprogramme und die Berufsbildung von Straßenkindern angestoßen sowie die Bereiche Friedensbildung, Konfliktlösung und Traumabewältigung seitens der Kommission Justice & Paix unterstützt.

… über die Möglichkeit, die MISEREOR-Arbeit auf Haiti zu unterstützen

Kleinbauern schließen sich zusammen, um ihr Land wieder aufzuforsten. Mit „Waldgärten“ sichern sie ihre Existenz.


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Rebecca Struck hat als persönliche Referentin von MISEREOR-Chef Pirmin Spiegel gearbeitet.

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