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Gaza: „Wir wollen keinen Krieg, wir wollen doch, dass unsere Kinder leben. „

„Wir wollen keinen Krieg, wir wollen doch, dass unsere Kinder leben. Es soll kein Krieg mehr kommen, ich habe doch nichts getan… „, so bricht es aus der Frau in der Müttergruppe heraus. Sie weint, und doch geht es ihr besser als anderen Frauen, die im Gruppenkreis sitzen.Mütter-mit-Kindern-im-Gazastreifen-1024x768

Sie kann ihren Schmerz ausdrücken, andere sitzen erstarrt da. Sie müssen erst Kraft finden, um über ihre Erlebnisse sprechen zu können, sich damit auseinanderzusetzen. Wie die Frau, die bei einem Bombenangriff ihren Mann und ihre Kinder verloren hat. Nur ihre Augen unter dem schwarzen Kopftuch schauen uns durchdringend an und sind doch ganz weit weg.

Ich bin in Gaza-City, im al-Ahli Arab Hospital. Dort wurden viele Verwundete des Gaza-Kriegs ärztlich versorgt. Aber die Ärztinnen und Ärzte merkten auch: die unsichtbaren Wunden, die Wunden des Krieges in der Seele, bleiben.

Die Müttergruppe gehört zu einem von MISEREOR unterstützten psychosozialen Programm für Frauen und Kinder. „Viele können sich nicht mehr konzentrieren, nicht mehr schlafen, sie finden keine Kraft mehr für den Alltag, werden abweisend oder sogar aggressiv gegen ihre Kinder. Manche werden durch das dauernde Wiedererleben, die „Flashbacks“, der schrecklichen Augenblicke gequält, andere haben das Erlebte so vollständig verdrängt, dass sie sich nicht mehr erinnern“, sagt uns der Leiter des Programms. Auch für die Kinder gibt es ein Programm, manche malen sich ihre Erlebnisse von der Seele. Wir sehen die erschütternden Zeugnisse an der Wand. „Papa, Papa“ hat ein Kind mit ungelenken Buchstaben auf ein Bild geschrieben, die Trümmer gemalt, unter denen sein Vater begraben liegt.

Uns wird klar, dass Krieg – auch noch lange nach dem Waffenstillstand – namenlose Angst und Schrecken bedeutet, hier in Gaza, aber auch in den angrenzenden israelischen Gebieten, deren Bevölkerung über Wochen immer wieder vor Hamas-Raketen in Schutzräume fliehen musste.

Bei unserer Fahrt durch den Gazastreifen sehen wir die Trümmer, viele zerstörte Wohnhäuser, ganze flachgebombte Viertel. Tausende Menschen hausen noch in Notunterkünften und Zelten, ungeschützt vor Regen und Kälte. Heute fegt ein Sandsturm – jahreszeitlich üblich – durch den Gazastreifen, wir frösteln, reiben den Sand aus den Augen. Wie aber geht es der Familie, die neben den Trümmern ihres Hauses notdürftig ein Zelt aufgebaut hat? Dem Esel der Familie dient ein Stückchen ehemaliges Wohnzimmer als Stall.

Die Straßen sind voller Kinder. Viele obdachlose Menschen sind in Schulen untergebracht, die übrigen Schulen arbeiten im Schichtsystem, von 6:30 bis 10:00 Uhr ist die erste Schicht dran, dann folgen noch zwei weitere.

Es fehlt nicht nur an Unterkünften – die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch. Das klägliche Warenangebot in den Geschäften macht die nahezu vollständige Blockade Gazas deutlich. Was an Fabriken die vorherigen Kriege überstanden hatte, vieles davon liegt jetzt in Schutt und Asche. Wir kommen an den Resten einer Zuckerfabrik vorbei, auf einer anderen Wand stehen noch die Buchstaben „PHARM“ – hier wurden früher einmal Medikamente hergestellt.

Wasser ist knapp. Strom gibt es nur 6 – 8 Stunden am Tag. Gezielt wurden während des Krieges zentrale Infrastrukturen zerstört und bis heute nicht instandgesetzt. Auch wir sitzen immer wieder im Dunkeln.

In den Krankenhäusern behilft man sich mit benzingetriebenen Generatoren, aber Treibstoff ist sehr teuer geworden. „Ihr von MISEREOR habt uns während und gleich nach dem Krieg geholfen, Treibstoff für die Generatoren zu kaufen. Das hat vielen Menschen das Leben gerettet: Schwerverwundete konnten weiter beatmet werden, Brutkästen für Frühgeborene funktionierten weiter, wir konnten weiter operieren“, sagt mir die Direktorin des Al-Ahli-Arab-Hospitals.

Nur gelegentlich kündet ein einsamer Karren mit Gemüse davon, dass im dichtbesiedelten Gazastreifen auch intensiv Landwirtschaft betrieben wird. Während des Krieges trafen die Bomben auch die Felder und die Gewächshäuser der Bauern. Viele Felder mit der Sommerernte darauf verbrannten. Ich stehe mit unserer Partnerorganisation DWRC Gaza (Democracy and Workers‘ Rights Center Gaza) vor einem großen Gewächshaus. Hier war eine Rakete eingeschlagen, Geschossteile haben große und unendlich viele kleine Löcher in die Hülle des Gewächshauses geschlagen. Jedes einzelne dieser kleinen Löcher wurde sorgfältig mit kleinen Stückchen von Plastiktüten zugestopft, die Raketentrümmer beseitigt, der Boden wieder anbaufähig gemacht. Jetzt ranken wieder Auberginen an nach oben gespannten Schnüren – ein kleines Stückchen Ernährungssicherheit für die oft mangelernährte Bevölkerung Gazas ist wiederhergestellt. „Allein hätten wir das nicht geschafft“, sagt der Bauer. „Das Wasserreservoir mit den Fischen war ja auch zerstört. Misereor hat uns geholfen, Gerätschaften zu leihen und zusätzliche Landarbeiter für kurze Zeit einzustellen, damit die Felder ganz schnell zur nächsten Pflanzzeit wieder brauchbar wurden.“ Einer der Landarbeiter ergänzt: „Und wir hatten ein Einkommen für unsere Familien, wenigstens für kurze Zeit“.

Wir fahren zurück, zurück in unser sicheres Leben in Deutschland. Aber immer wieder sprechen wir über die Schulklasse bei den Rosenkranzschwestern im Gazastreifen. 14-, 15-jährige Schülerinnen und Schüler. Sie sprechen von ihren Erfahrungen während des Krieges. „Meine Eltern sind beide Ärzte“, sagt ein Mädchen. „Sie haben Tag und Nacht im Krankenhaus gearbeitet während dieser Zeit. Und wenn sie morgens weggingen, hatte ich jedes Mal Angst, dass ich sie vielleicht zum letzten Mal gesehen habe.“

Ein Schüler erzählt von seinem Freund, der tot ist. Andere von ihrem Wunsch, wenigstens einmal aus dem Gazastreifen herauszukommen, ihren Zukunftsplänen. „Ich streng‘ mich in der Schule an, ich will Ärztin werden“ ruft ein Mädchen eifrig. „Ich bin fünfzehn. Drei Kriege habe ich schon erlebt; der nächste kommt bestimmt. Dann will ich wenigstens helfen können, nicht mehr so ohnmächtig danebenstehen“.

Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer von MISEREOR, berichtet von seinen Eindrücken und seinen Begegnungen mit MISEREOR-Partnern in Gaza.


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Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer bei Misereor. Bevor er 2012 zu Misereor kam, war er 15 Jahre in Brasilien als Pfarrer tätig und bildete in verschiedenen Ländern Lateinamerikas Laienmissionare aus.

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