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3 Fragen an: Dr. Martin Bröckelmann-Simon – „Jeder ist auf Solidarität und Mitmenschlichkeit angewiesen“

Jesiden nahe des Sinjargebirges

Martin Bröckelmann-Simon im Gespräch mit jesidischen Flüchtlingen im Sinja-Gebirge /Nordirak

Seit 2011 hat Deutschland insgesamt 79.000 Flüchtlinge aufgenommen. Im Vergleich zu den Zahlen in Libanon ist das wenig. Welche Aufnahmekapazitäten besitzt Deutschland zusätzlich Ihrer Meinung nach? Wie viele Flüchtlinge sollten demnach mindestens aufgenommen werden, um die Last zu verringern?

Bröckelmann-Simon: Unsere eigene neuzeitliche Geschichte in Deutschland ist doch auch eine von Flucht, Migration und Vertreibung, aber ebenso von Zuflucht und Integration. Das gilt nicht nur für die Epoche der europäischen Armutsauswanderung und die Not nach den beiden Weltkriegen, sondern ist auch in unserer jüngsten Vergangenheit zu finden: so haben wir z.B. während des Bürgerkriegs in Bosnien-Herzegowina 350.000 – 400.000 Flüchtlingen von dort auf gute und gesellschaftlich breit akzeptierte Weise Zuflucht in Deutschland gewährt, obwohl dadurch 1994  die Pro-Kopf-Belastung der deutschen Bevölkerung durch Leistungen nach dem Asylbewerber-Leistungsgesetz fast doppelt so hoch waren wie z.B. 2013. Es gibt also historische Erfahrungen, die zeigen, dass unsere Gesellschaft mit großen Zahlen von Flüchtlingen erstaunlich gut zurecht gekommen ist. Warum sollte das nicht auch für die syrischen und irakischen Flüchtlinge gelten? Die entscheidende Frage ist allerdings, wie unsere Gesellschaft darauf vorbereitet wird und wie sie neu lernt, mit den unvermeidlichen Spannungen und Auseinandersetzungen um das Thema umzugehen. Dabei muss heute noch viel mehr als früher auch in europäischen Kategorien gedacht werden: wenn die EU bis heute nur 4 Prozent der syrischen Flüchtlinge aufgenommen hat – und dabei eine Reihe von Ländern keine einzigen – muss auch Europa insgesamt seinen Anteil erhöhen und für eine gerechte Verteilung der Lasten sorgen.

In den ärmeren Nachbarländern Syriens, die bislang die Hauptlast der Aufnahme von Flüchtlingen zu tragen hatten, ist die Solidarität größer als bei uns in Deutschland, wo nur eine verhältnismäßig geringe Zahl an Flüchtlingen aufgenommen wird. Wie erklären Sie sich das?

Bröckelmann-Simon: Deutschland hat mit dem nach wie vor geringen Anteil von Flüchtlingen an der Gesamtbevölkerung nicht allzu viel Grund, von einem „Flüchtlingsstrom“ zu reden. Länder wie Libanon, Kurdisch- Irak oder Kenia – ja, diese haben mit 20-30 Prozent Flüchtlingsanteil tatsächlich ein Problem. In  Kurdisch- Irak sind die Hälfte aller Schulkinder nun Flüchtlinge oder Vertriebene, in Nordkenia beträgt das Verhältnis der Einheimischen zu den Bewohnern des weltweit größten Flüchtlingslagers Dadaab etwa zwei zu acht. Wieso aber zeigen sich z.B. in einem Land wie dem Libanon, das in den letzten drei Jahren einen fluchtbedingten Bevölkerungszuwachs von ca. 30Prozent hatte ( das wären in Deutschland ca. 25 Millionen Menschen!) trotzdem so viel fast beschämende Gastfreundschaft und Solidarität, also echte Willkommenskultur? Wieso öffnen die Kurden im Irak den Vertriebenen ihre Häuser, ihre Schulen? Vielleicht ist ihnen allen, ob Kenianern, Libanesen oder Kurden  aus der eigenen Erinnerung einfach nur präsenter, was es heißt, vor Gewalt und Not zu fliehen, Heimat und Sicherheiten aufzugeben und in der Fremde zu stranden. Sie ahnen, wie leicht sie selbst in eine vergleichbare Lage geraten könnten und dann auch auf die Solidarität und Mitmenschlichkeit fremder Menschen angewiesen zu sein. Die Fähigkeit, in dem Anderen, dem Flüchtling sich selbst zu erkennen, hat offenbar auch etwas damit zu tun, wie nah einem selbst diese Erfahrung von Vertreibung und Zuflucht ist.

Sie appellieren an Deutschland und weitere europäische Länder zu handeln, da sonst die weiterbestehende Belastung für die Nachbarländer Syriens zu groß werde und womöglich in neuen Konflikten enden würde. In welchen Bereichen ist die Belastung besonders groß und wie wirkt sie sich auf das unmittelbare Überleben der Flüchtlinge in den Regionen aus?

Bröckelmann-Simon: Die UN schätzen den zusätzlichen Finanzbedarf in Folge der Syrienkrise für 2015 auf 5,5 Mrd US-Dollar. In 2014 war der Bedarf ähnlich, jedoch konnten nur 53 Prozent davon tatsächlich gedeckt werden. Die Sozialsysteme der aufnehmenden Nachbarländer sind extrem belastet. Dies gilt insbesondere für den Bildungsbereich, wo eine Verdoppelung der Schülerzahlen verkraftet werden muss, die zugleich auch noch sprachlich und inhaltlich an die für sie fremden Curricula herangeführt werden müssen. Ähnliches trifft auch auf die Gesundheitsversorgung zu. Die menschenwürdige Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen mit Nahrung, Wasser, Strom, Heizmaterial etc.  ist eine große Herausforderung, nicht nur im Hinblick auf den harten Winter, sondern auch die extrem heißen Sommermonate. Und zu guter Letzt die Frage von Arbeit und Einkommen, bei der nun z.B. die armen Libanesen mit den noch ärmeren Flüchtlingen um die Jobs konkurrieren. Nur eine inklusive Herangehensweise, bei der Sozialprogramme für beide – die Flüchtlinge und die sie aufnehmenden armen Gemeinden – aufgelegt werden, kann helfen, Spannungen zu vermeiden und Integration zu fördern.


Unsere Hilfe für jesidische Flüchtlinge

50 Euro kostet ein Lebensmittelpaket für eine fünfköpfige Familie.
150 Euro werden für Decken und Matratzen für fünf Personen gebraucht.
18 Euro sichern den Schulunterricht und die Betreuung für ein Flüchtlingskind.
500 Euro helfen dabei, eine winterfeste Bleibe zu finanzieren.

Mehr zu unserer Unterstützung von jesidischen Flüchtlingen


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Barbara Wiegard arbeitet als Pressesprecherin bei Misereor.

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