Nach über 40 Jahren Bürgerkrieg auf der philippinischen Insel Mindanao könnte ein Gesetz endlich zur Lösung des Konflikts beitragen. Ein Anti-Terror-Einsatz mit 68 Toten gefährdet nun den Gesetzgebungsprozess und damit das von Millionen Menschen so sehr ersehnte Ende der Gewalt.
Ein Beitrag von MISEREOR-Expertin Elisabeth Strohscheidt
Nach über 40 Jahren Bürgerkrieg und Gewalt auf der südphilippinischen Insel Mindanao war im Oktober 2012 das „Bangsamoro Framework Agreement“ (FAB) vereinbart worden. Mit der Unterschrift der philippinischen Regierung (GPH) und der „Moro Islamic Liberation Front“ (MILF) unter diesem Dokument war der Frieden endlich in greifbare Nähe gerückt – nach über 15 Jahren harter Verhandlungen. Angaben der Weltbank zufolge waren allein zwischen 1970 und 2005 über 120.000 Menschen in dem blutigen Konflikt ums Leben gekommen. Über zwei Millionen Menschen wurden intern vertrieben. Das Abkommen legte nun den Grundstein für die Ausarbeitung eines nationalen Gesetzes, des „Bangsamoro Basic Law“ (BBL), einer Art Grundgesetz für eine weitgehend autonome Region „Bangsamoro“.
Das BBL soll die Weichen für freie und faire Wahlen für ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung in der Bangsamoro-Region stellen. Der Gesetzentwurf liegt derzeit dem nationalen Parlament in Manila zur Beratung vor. Viele befürchten einen herben Rückschlag, sollte das BBL nicht während der im Juni 2016 endenden Amtszeit von Präsident Aquino die parlamentarischen Hürden nehmen. Mit der Verabschiedung des BBL wäre auch eine weitgehende steuerliche und finanzielle Autonomie der Region Bangsamoro verbunden. Mindanao ist reich an natürlichen Ressourcen, vor allem mineralischen Rohstoffen – und doch gehören die meisten Regionen der Insel bislang zu den ärmsten der Philippinen. Dies gilt insbesondere für den größenteils von Muslimen bewohnten Teil im Westen und in Zentral-Mindanao. Armut und Diskriminierung waren und sind hier Nährboden für immer wiederkehrende Gewalt. Ein Anti-Terror-Einsatz am 25. Januar 2015 hat jedoch den Zeitplan zur Verabschiedung des Gesetzes ernsthaft in Frage gestellt; in der Folge gefährdet er den Friedensprozess selbst, und damit auch die Entwicklungschancen für eine der ärmsten Bevölkerungsgruppen der Philippinen.
Missglückte Operation
Am frühen Morgen des 25.Januar 2015 drangen über 300 Polizisten der „Special Action Force“ (SAF), einer Sondereinheit der nationalen Polizei der Philippinen (PNP), in ein von der MILF kontrolliertes Gebiet in Mamasapano, Provinz Maguindanao, Zentralmindanao, ein. Ziel des Anti-Terror-Einsatzes, der den Namen „Oplan Wolverine“ trug, war die Festsetzung von Zulkifi bin Hir (alias Malwan), einem in Malaysia geborenen und international gesuchten Terroristen, dem die USA eine Führungsrolle in der mit al-Quida assoziierten Jema‘ah Islamiyah nachsagen. Er gilt als „Osama bin Laden Südostasiens“. Auf ihn war ein Kopfgeld von 5 Mio. US$ ausgesetzt. Ebenfalls des Terrorismus beschuldigt und gesucht wurde Abdul Basil Usman, ein für seine Kenntnisse im Bombenbau bekannter philippinischer Staatsbürger. Auf seine Ergreifung stand eine Belohnung von 1 Mio. US$. Berichten zufolge wurde Malwan bei dem Einsatz getötet; Usman konnte entkommen. Beide sollen sich in von der MILF kontrolliertem Gebiet aufgehalten haben. Inwieweit dies mit aktiver Unterstützung der MILF geschah, ist nach wie vor offen. In ihren Statements hat sich die MILF wiederholt vom Terrorismus distanziert. Für sie steht – nach den langen Verhandlungsjahren und gerade jetzt, wo der Frieden in greifbare Nähe gerückt ist – enorm viel auf dem Spiel.
Anders für die BIFF (Bangsamoro Islamic Freedom Fighters), eine Splittergruppe der MILF, der die getroffenen Friedensvereinbarungen nicht weit genug gehen. Immer wieder macht sie durch neue Kampfhandlungen von sich reden. Eines ihrer Camps befand sich in unmittelbarer Nähe des Geschehens; die BIFF soll aktiv an den Kämpfen am 25. Januar beteiligt gewesen sein. Mindestens 44 Polizeikräfte, 18 MILF Mitglieder und vier Zivilisten kamen bei dem Einsatz ums Leben, weitere Personen wurden verletzt. Die Polizisten waren offenbar mit großer Brutalität umgebracht worden, teilweise nachdem sie sich bereits ergeben hatten.
Wie konnte es dazu kommen? Dies ist derzeit eine der vielen offenen Fragen, die Gegenstand von inzwischen insgesamt acht Untersuchungskommissionen sind, die sich mit den Vorfällen befassen. Darüber hinaus wurde wiederholt der Ruf nach einer Wahrheitskommission laut. Widersprüche bestehen nach wie vor über den genauen Zeitpunkt, zu dem der Präsident über den Einsatz informiert wurde und ob er unter Umständen selbst den Einsatzbefehl erteilt oder gutgeheißen hat.
Fatale Folgen
Angesichts der inzwischen offensichtlichen Fehler, Unklarheiten und Widersprüche drängt sich die Frage förmlich auf, wie ein solcher Einsatz in einer so heiklen Situation auf diese Weise geplant und durchgeführt werden konnte. Eines steht fest: Der Vorfall hat die Gemüter aufgeheizt und spielt denen in die Hände, die dem Friedensprozess und der Verabschiedung des BBL ohnehin kritisch gegenüberstehen. Medien und einige Senatoren waren nach dem Vorfall schnell mit einseitigen Schuldzuweisungen an die MILF dabei. Ex-Präsident Estrada ging so weit, nach einem neuen „all-out-war“ in Muslim-Mindanao zu rufen. Einen solchen hatte er bereits 2000 einmal ausgerufen, er hat viele Tausende Menschen das Leben gekostet und allein damals rund eine Million Menschen in die interne Vertreibung gezwungen. Die Gewalt aber hat er nicht beendet.
Der zwischen GPH und MILF geschlossene Waffenstillstand in der Region hatte bereits über drei Jahren gehalten – bis zum 25. Januar 2015 eben. Teil der getroffenen Vereinbarungen ist, dass sich Militär und MILF gegenseitig über geplante Einsätze informieren. Über den geplanten Einsatz der Sondereinheiten der philippinischen Polizei waren jedoch weder Armee noch MILF vorab informiert, obwohl dies zur Sicherheit der Polizisten selbst wie auch zur Deeskalation hätte beitragen können. Strittig ist, ob die USA in irgendeiner Weise indirekt oder sogar operativ in die Anti-Terror-Aktion vom 25. Januar involviert waren. Angeblich seien amerikanische Soldaten und eine Drohne gesehen worden. Zweifelsfrei bestätigt wurde diese Nachricht bislang nicht. Fest steht jedoch, dass die US-Armee in der Region präsent ist und die Philippinen ein treuer Verbündeter der USA im „Krieg gegen den Terror“ sind. Marwan und Usman standen auf der Liste der von den USA gesuchten Top-Terroristen.
„Oplan Wolverine“ hat in der Folge zu einer Re-Militarisierung der Region geführt. Bei meinem Besuch auf Mindanao Ende Januar konnte ich das auf der Autofahrt von Cotabato nach Marbel mit eigenen Augen beobachten. Ein befürchteter Militärschlag zur Ergreifung derjenigen, die für die Tötung der Polizisten verantwortlich sind, ist bislang ausgeblieben. Das ist gut so. Doch Partner berichten von verstärkten Kämpfen zwischen MILF und BIFF, die unter anderem durch die Vorfälle am 25. Januar ausgelöst oder zumindest verstärkt wurden. Dies und die Furcht vor neuer Gewalt seitens des Militärs haben erneut Tausende Menschen zur Flucht getrieben. Auch 13 Schulen in der Region seien inzwischen geschlossen worden; über 6.500 Menschen sind Berichten unserer Partner zufolge von den Folgen des Anti-Terror-Einsatzes direkt betroffen.
Der Frieden auf Mindanao darf nicht zum „Kollateralschaden“ werden
Das Parlament hat die Beratungen zum BBL bis auf weiteres eingestellt – man will die Ergebnisse der Untersuchung der Vorfälle vom 25. Januar abwarten. Doch bis die verschiedenen Untersuchungskommissionen zu klaren Ergebnissen kommen, kann noch einige Zeit vergehen. Gravierende Folgen für den Friedensprozess sind bereits jetzt erkennbar. Dass die Vorfälle vollständig aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen, steht außer Frage. Wie Kardinal Quevedo, Erzbischof der Diözese Cotabato, zu Recht anmahnt, ist jedoch darauf zu achten, dass allen Opfern und deren Familien Gerechtigkeit widerfährt. In den Medien und auch in den Untersuchungsausschüssen des Parlamentes ist bislang jedoch fast ausschließlich von den Opfern auf Seiten der Polizei die Rede. Die Opfer unter den MILF-Mitgliedern und der Zivilbevölkerung finden kaum Erwähnung. Vertrauen muss wiederhergestellt werden, von beiden Seiten. Und so ist es gut, dass sich inzwischen die Stimmen derer mehren, die zur Besonnenheit mahnen und auf eine baldige Fortsetzung der Beratungen über das BBL drängen. Unter ihnen sind neben Präsident Aquino selbst – dessen politisches Ansehen durch die Vorfälle erheblich gelitten hat – auch namhafte weitere Regierungsvertreter, hochrangige Polizeibeamte und Militärs. Auch die katholische Kirche drängt auf eine Fortführung des Friedensprozesses. Neben Kardinal Quevedo hat sich auch Erzbischof Ledesma (der derzeit zur Eröffnung der MISEREOR-Fastenaktion in Deutschland weilt) öffentlich für eine Fortsetzung des Friedensprozesses und der Beratungen des BBL ausgesprochen. Auch die katholische Bischofskonferenz der Philippinen hat sich entsprechend geäußert.
Zivilgesellschaftliche Organisationen wie das Netzwerk der Mindanao Peaceweavers und Misereor-Partnerorganisationen, darunter das Consortium for Bangsamoro Civil Society (CBCS), haben umgehend und mit aller Deutlichkeit die Gewalt verurteilt, doch zugleich dazu aufgerufen, den Friedensprozess nicht in Frage zu stellen.
„Amidst the calls for war, we call on everyone not to give up on peace” (“Inmitten der Rufe nach Krieg rufen wir alle Menschen auf, den Frieden nicht aufzugeben.”) So das “Philippine Misereor Partnership” (PMPI).
Gezielte Tötungen, wie die USA sie im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ immer wieder anwenden, sind völkerrechtlich fraglich und widersprechen international vereinbarten Menschenrechtsstandards. Auch das gehört bei den Untersuchungen auf den Prüfstand. Das Beispiel Mamasapano zeigt, wie hoch das Risiko ist, dass der „Krieg gegen den Terror“ lange und mühsam erreichte Fortschritte in Friedensprozessen ernsthaft gefährdet. Zu viel steht auf dem Spiel, um in Kauf zu nehmen, dass die realistische Hoffnung auf Frieden sozusagen zum „Kollateralschaden“ des Anti-Terror-Einsatzes wird. Es ist zu hoffen, dass sich die zu Besonnenheit aufrufenden Stimmen durchsetzen werden. Eine Alternative zur baldmöglichen Fortsetzung der Beratungen des BBL im Parlament gibt es nicht, wenn der von Millionen Menschen so lange ersehnte Frieden auf Mindanao endlich eine Chance erhalten soll.
Elisabeth Strohscheidt befasst sich bei MISEREOR mit Fragen der Friedensförderung und Konflikttransformation. Vom 27. Januar bis 4. Februar war sie zu Gesprächen mit Partnerorganisationen in den Philippinen, unter anderem auch im Konfliktgebiet Mindanao.