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Für Yahel Samuel Leon Lucas

Wir haben uns zwar nie kennengelernt, aber ich glaube du bist ein toller Junge und du hast es verdient, dass die Welt von dir erfährt. Denn ich werde nicht so tun als hätte es dich, so wie die 26.000 in Mexiko vermissten Personen, nie gegeben. Ich hoffe, du befindest dich an einem Ort, an dem die Liebe stärker ist als die Ungerechtigkeit – an einem Ort an dem du das Übel dieser Welt vergessen und Kind sein kannst.

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3. Dezember 2015, Mexiko-Stadt, Mexiko

Hast du ihn gesehen?

Yahel Samuel Leon Lucas

Geschlecht: männlich

Alter: 3 Jahre

Statur: schlank

Größe: 81 cm

Teint: hellbraun

Gesicht: rund

Stirn: groß

Nase: platt

Mund: mittelgroß

Lippen: normal

Augenbrauen: mitteldicht

Kinn: rund

Art und Farbe der Augen: groß und dunkelbraun

Art und Farbe der Haare: glatt und dunkelbraun

Yahel Samuel Leon Lucas wird seit dem 3. Dezember vermisst. Woher ich das weiß?  Die Nachrichten haben nicht darüber berichtet. Mit meinen Arbeitskollegen und Freunden habe ich ebenfalls nicht darüber gesprochen. Yahel Samuel Leon Lucas wird auch nicht mit Hilfe der Polizei gesucht – es gibt keine großen Suchtrupps, wie es in Deutschland der Fall wäre, wenn ein dreijähriges Kind spurlos verschwindet. Um Yahels Angehörige zu beruhigen, wird lediglich ein steckbriefähnliches DIN A4 Blatt mit seinen “Hauptmerkmalen” an einer Art schwarzem Brett in einigen Metrostationen in Mexiko-Stadt ausgehängt.

Hast du ihn gesehen? – den 3-jährigen Yahel mit hellbraunem Teint, dem runden Gesicht und der platten Nase?

Ich schaue mir sein Foto an und frage mich, wer Yahel war. War er ein fröhlicher Junge, hat er viel gelacht und gespielt? Oder war er eher ein Ruhiger, eines dieser Kinder, die sich schüchtern hinter ihren Müttern verstecken, dir aber trotzdem ein liebevolles Lächeln schenken? Was waren seine Lieblingsspeisen, seine Träume und Hoffnungen?

Yahel ist nicht die einzige Person, die an diesem 3. Dezember vermisst wird. Evelin Esther Leon Lucas  (2 Jahre alt) und Esther Lucas Davalos (23 Jahre alt) werden ebenfalls gesucht. Die drei Anzeigen hängen in einer Reihe an diesem “schwarzen Brett” umgeben von Plakaten, die Zeichenkurse, Fotografie-Workshops und Tanzkurse aller Art bewerben, sowie einer Adresse für anonyme Alkoholiker.

 

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Die Aushänge der vermissten Personen erinnern mich an die Anzeigen entlaufener Katzen und Hunde, die man in Deutschland an Bäumen oder Straßenlaternen findet. Mit einem kleinen Unterschied – die Anzeigen der entlaufenen Tiere in Deutschland werden mit größerer Aufmerksamkeit gelesen als die Steckbriefe von Yahel, Evelin und Esther an diesem Tag.

Ein dreijähriges und ein zweijähriges Kind sowie eine 23-jährige Frau werden vermisst und nicht eine Person in der Metrostation nimmt sich einen kurzen Moment Zeit, um sich die Gesucht-Anzeigen durchzulesen. Ich spüre kein Interesse, keine Empörung, keine Trauer, keinen Schmerz. Yahel, Evelin und Esther sind drei von 26.000 vermissten Personen in Mexiko. Die Menschen dieser Stadt und dieses Landes haben sich daran „gewöhnt“, dass Menschen verschwinden, entführt, gefoltert, vergewaltigt oder ermordet werden. Ausschließlich 2% der Fälle werden bestraft und die mexikanische Regierung, deren eigentliche Aufgabe es ist, ihr Volk zu schützen, ist in einen Großteil der Fälle verwickelt und wird von Seiten der mexikanischen Bevölkerung als das größte Übel in dieser hoffnungslosen Situation wahrgenommen. Außerdem müssen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, welche sich vorbildlich und mutig für Gerechtigkeit in Mexiko einsetzen, tagtäglich um ihr Leben fürchten.

Wofür sollte man sich also den Kopf zerbrechen, wenn der Staat an den Verbrechen beteiligt ist und jeder Versuch gegen das Übel anzukämpfen einen selbst zum nächsten „Opfer“ machen könnte? Ein weiteres Argument wäre, dass “man” auch keine 26.000 Personen betrauern kann (und dabei handelt es sich ausschließlich um die Anzahl der verschwundenen Personen, die Opfer der außergerichtlichen Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Folter jeder Art nicht eingeschlossen).

Der einfachste Weg ist also wieder einmal die gute alte Ignoranz.

Die jungen, gebildeten und vor allem gut situierten Mexikaner machen es den anderen vor. Sie wohnen in den schicken, teuren und relativ „sicheren“ Gegenden der großen Städte Mexikos in ihren friedlichen Blasen. Ihren Nationalstolz haben sie, im Vergleich zum Durchschnittsmexikaner, vor langer Zeit schon abgelegt. Sie orientieren sich ausschließlich an Europa und den USA, ohne zu sehen, wie wunderschön und divers ihr eigenes Land ist.  Auf Facebook teilen sie mehr Artikel über die Flüchtlingskrise in Europa als über die Tragödien, die sich tagtäglich in Mexiko abspielen und bei vielen von ihnen kann man eine französische Flagge in ihrem Profilbild finden. Keine dieser Personen nutzt ihre sozialen Netzwerke, um auf die Tragödie von Ayotzinapa aufmerksam zu machen oder über diese zu berichten.

Aber vielen lieben Dank für die Solidarität mit Europa, liebe Mexikaner!

Jeden Tag in der Metrostation finde ich neue DIN A4 Blätter an diesem schwarzem Brett – Gesucht-Anzeigen verschwundener Personen. An manchen Tagen sind es Männer, die gesucht werden, an anderen sind es Kinder oder Frauen. An “Merkmalen” wie Hautfarbe, Größe der Stirn und Augenform werden sie beschrieben. Die Blätter vom Vortag hängen am nächsten Tag schon nicht mehr an diesem schwarzen Brett – es sind neue Steckbriefe mit anderen Gesichtern und Namen – neue Zufallsopfer dieser traurigen mexikanischen Realität.

Selbst in Deutschland hatte ich den Eindruck, dass Mexiko schon als “verlorener Fall” wahrgenommen wird. Hoffnung für dieses Land haben die Wenigsten. Weder im Ausland noch hier vor Ort lebt die Zuversicht, dass die Menschenrechtslage in Mexiko eine positive Entwicklung erleben könnte, auch wenn es vorerst sehr kleine aber wichtige Schritte oder Erfolge wären. Und genau darin besteht auch die Problematik. Wie wollen wir Mexikaner oder wie will die internationale Staatengemeinschaft die Mexikaner in ihrem Kampf für Gerechtigkeit unterstützen, wenn selbst die weltweite öffentliche Empörung ausbleibt und die tagtägliche Gewalt sowie die Menschenrechtsverletzungen nicht als „schrecklich“, „unmöglich“, „traurig“ sondern  als „normal“ angesehen werden?

So lange diese Situation der Ungerechtigkeit als “normal” eingestuft wird, die internationale Staatengemeinschaft sich nicht für das mexikanische Volk einsetzt und Menschenrechtsaktivisten sowie Journalisten in ihrem Kampf für die Einhaltung der Menschenrechte nicht unterstützt werden, die internationalen Medien nicht mehr über das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in Mexiko berichten, die jungen Mexikaner sich mehr für die Flüchtlingskrise in Europa als für Ayotzinapa interessieren, so lange die Menschen in den Metrostationen sich die Steckbriefe vermisster Kinder nicht anschauen…

…so lange, lieber Yahel, wirst du nicht das letzte Kind sein, dessen Steckbrief an dem schwarzen Brett der Metrostation hängt. So lange wird dich keiner wirklich suchen.

Es tut mir Leid.

Geschrieben von:

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Ich bin 23, komme aus Speyer und werde für die nächsten 10 Monate das Menschenrechtszentrum Centro Prodh, Centro de Derechos Humanos Miguel Augustín Pro Juáres A.C. in Mexiko-Stadt, Mexiko, im Rahmen meines Freiwilligendienstes, unterstützen. Das Centro Prodh in Mexiko-Stadt ist eine lokale NGO mit beratendem Status vor dem sozialen- und ökonomischen Rat der Vereinten Nationen und setzt sich für die Verteidigung und Förderung der Menschenrechte von Individuen und Gruppen in Mexiko ein. Dabei verfolgt das Zentrum stets das Ziel eine gerechte und demokratische Gesellschaft, in der alle Menschenrechte ausnahmslos respektiert werden, aktiv zu gestalten. Das Centro PRODH bietet Schulungen und Seminare für Menschenrechtsaktivisten in Mexiko an und unterstützt diese dadurch auf professionelle Art und Weise.

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Avatar-Foto

    Liebe Sonja,
    ich schließe mich Vincent an. Ein sehr guter Eintrag, alle Achtung. Wirklich sehr erschütternd. Und zugleich auch desillusionierend. 26.000 Personen. Und keinen interessiert’s. Noch nicht mal die eigenen Landsleute. Und hier in Europa ist man auch mehr mit den eigenen „Krisen“ beschäftigt. Schlimm, wieviele Menschen und Schicksale einfach ignoriert werden.
    LG, Uta

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    Sehr gut geschriebener und erschütternder Beitrag. Hier in Mumbai sieht man auch immer wieder genau die beschriebenen A4-Vermisstenzettel an den Zugstationen. Alleine die Größe der Stadt, Indiens und der Unwillen & Unfähigkeit der Behörden ernsthaft nach diesen Personen zu suchen, lassen einen hoffnungslos zurück. Die einzelne Tragödien für diese Personen, ihre Familien und Freunde verblassen auch viel zu oft hinter diesen unglaublichen Zahlen, wie 26.000 Vermissten in Mexiko.
    Viele Grüße aus Indien

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