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Brasilien: Zwischen Amtsenthebung und kaltem Putsch

Die Wahl Mitte April im brasilianischen Unterhaus, bei der es um die Amtsenthebung von Dilma Rousseff ging, war für viele der Projektpartner von MISEREOR ein Schlag in die Magengrube und ein Angriff auf die Demokratie. Kaum ein Vertreter der sozialen Bewegungen stellt in Frage, dass die Präsidentin in ihrer zweiten Amtsperiode einen miserablen Job gemacht hat und für die politische und wirtschaftliche Krise im Land mitverantwortlich ist. Es ist ihr aber nicht allein anzulasten.

Fora Cunha

https://www.youtube.com/watch?v=LcvUIEXeuUQ

Die gegen Dilma Rousseff vorgetragenen Vorwürfe der Manipulation der Haushaltsbücher sind juristisch kaum nachzuweisen und werden von vielen nur als Vorwand und Mittel zum Zweck gedeutet. Im Gegensatz zu ihren derzeitigen Hauptgegnern, dem aktuellen Vizepräsidenten Michel Temer und dem Präsidenten des Unterhauses, Eduardo Cunha, (beide von der PMDB – Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung), gegen die aktuell diverse Korruptionsprozesse laufen, kann der Regierungschefin keine persönliche Bereicherung vorgeworfen werden.


 

„Die positive Abstimmung für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens resultiert aus einem Akt der Rache von Eduardo Cunha, gegen den mehrere Verfahren wegen Korruption anhängig sind, und den die Präsidentin nicht dagegen in Schutz genommen hat. Es ist für uns nicht akzeptabel, dass die wirklich korrupten Politiker in der derzeitigen Diskussion außen vor gelassen werden.“

MISEREOR-Projektpartner „Centro Gaspar Garcia“ in Sao Paulo

 

In einem Interview mit Christiane Amanpour von CNN zeigt der in Rio de Janeiro lebende Journalist Glenn Greenwald sich verwundert, wie in der brasilianischen Gesetzgebung jemand wie Cunha, der klar bewiesen 5 Millionen Dollar Bestechungsgelder auf Schweizer Konten gebunkert hat, überhaupt die Korruptionsanklage gegen die Präsidentin leiten darf. Von den 513 Abgeordneten, die am Wahltag ihre Stimme gegen Korruption abgaben, sind 352 aufgrund krimineller Machenschaften angeklagt. Dilma Rousseff gilt dagegen nach wie vor als integer.

Nicht nur Dilma-Befürworter sehen in der Wahl im Unterhaus einen strategisch eingefädelten „kalten Putsch“. Der politisch neutrale, ehemalige Präsident des obersten brasilianischen Gerichtshofs, Joaquim Barbosa, bezeichnete die Wahl am 17. April als eine Schande für das Land. In einer kurzen Twitter-Nachricht schrieb er „Man müsse vor Scham weinen“.

twitter-Joaquim Barbosa

twitter.com/joaquimboficial

Der Wahlvorgang selbst vermittelte eher den Eindruck einer schlechten Theaterinszenierung als einer seriösen Abstimmung über die Zukunft des Landes. Kaum ein Abgeordneter stellte bei seiner Stimmabgabe eine Verbindung zu den Anklagepunkten her. Mehr als fünfzig von ihnen gaben ihre Stimme in Anlehnung an Gott ab, 110 zitierten für ihre Entscheidung die Familie, von der 93-jährigen Großmutter bis hin zum nicht-geborenen Enkelkind. Der Abgeordnete Jair Bolsonario trieb den von Emotionen erfüllten Saal zum Höhepunkt, als er seine Stimme in Gedenken an Coronel C.A. Brilhante Ustra, einen der größten Folterer während der Militärdiktatur, abgab.

Abneigung, Verachtung und Hass unter den Abgeordneten errreichten bis dahin nicht gekannte neue Superlative. Die Polarisierung zwischen einem sich durch die Farben der brasilianischen Flagge symbolisierenden rechten Lagers und den rotgekleideten Anhängern der Regierungspartei, hat sich unter Mithilfe einer sehr einseitigen Presseberichterstattung durch die Massenmedien auch auf die brasilianischen Straßen verlagert. Insbesondere der noch aus Zeiten der Diktatur stammende und der Oligarchie nahestehende Sender „Rede Globo“ führte regelrechte Hetzkampagnen gegen Dilma Rousseff und ihren Vorgänger Lula da Silva. Nachdem niederländische Journalisten bei einer Untersuchung der Panama-Papiere feststellten, dass „Rede Globo“ selbst in diversen Korruptionsskandalen verwickelt ist, fuhr der Sender seine journalistischen Manipulationen jedoch etwas zurück.

Die Stimmung im Land ist angeheizt

Anspannung liegt in der Luft und wartet darauf, freigelassen zu werden. Zur vorläufigen Amtsenthebung von Dilma Rousseff muss der Senat in einem einfachen Mehrheitsentscheid den Beschlüssen aus dem Unterhaus noch zustimmen. Es ist davon auszugehen, dass Mitte bis Ende Mai der Weg für den amtierenden Vizepräsidenten Michel Temer zum neuen Präsidenten von Brasilien frei wird.

Bei der Benennung von Temer als neuen Staatschef und Eduardo Cunha als seinen Vize, ist von neuen Protestwellen im Land auszugehen. Beide Politiker sind höchst unpopulär und gelten als korrupt. Nach Umfragen des brasilianischen Forschungsinstitutes Datafolha bei den Demonstrationen in Sao Paulo sind 87 % der Befürworter einer Amtsenthebung Rousseffs und 94 % der Gegner für einen unmittelbaren Amtsentzug von Cunha.

Die Entscheidung über die politische Zukunft vom Präsidenten des Unterhauses ist in gewisser Weise ein Gradmesser über die Stärke bzw. Schwäche der brasilianischen Demokratie. Die Beweislage gegen Eduardo Cunha ist eindeutig. Weitere Korruptionsanklagen gegen den äußerst raffinierten Mann, der mit den Worten „Möge Gott Erbarmen mit diesem Land haben“ seine Stimme am Wahlsonntag abgab, wurden eingeleitet.

Cunha, der seit Monaten sein Amt als Präsident des Unterhauses dazu missbraucht, um den gegen ihn geführten Prozess hinauszuzögern und die Ethikkommission einzuschüchtern, arbeitet zurzeit unmittelbar an seiner eigenen politischen Amnestie. Gelingt es ihm tatsächlich, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, so wird dies mit einem Messerstich in die angreifbare brasilianische Demokratie gleichgesetzt.

Viele unserer kirchlichen Partner befürchten, dass nach dem Machtwechsel die von der Regierung der Arbeiterpartei PT eingeführten Sozialprogramme wie „Bolsa Familia“ und „Minha Casa Minha Vida“ stark zurückgefahren werden und die Ärmsten der Armen die Hauptbetroffenen des erzwungenen Regierungswechsels sein werden. Kurz bis mittelfristig ist von Haushaltskürzungen im sozialen Sektor und in der Gesundheitspolitik auszugehen. Wie diese genau aussehen werden, wird sich zeigen.


 

„Wir verurteilen die heuchlerische Kampagne, die mit Unterstützung der Medien gegen die Präsidentin geführt wird. Die Politiker, die diese Kampagne unterstützen, denken lediglich an ihre eigenen Interessen und politischen Projekte, die rein auf wirtschaftlichen Gewinn aus sind. Sie wollen die sozialen Fortschritte, die in Brasilien in den letzten Jahren erreicht wurden, aufhalten.“

MISEREOR-Projektpartner CPT im Amazonasgebiet

 

Auch wenn die aktuelle politische Lage in Brasilien auf den ersten Blick als Rückschritt in der Demokratie zu deuten ist, so bietet sie doch auch den Nährboden für den Aufbau neuer gefestigter demokratischer Strukturen. Die Massenbewegungen von 2013 gegen Preiserhöhungen und Korruption, sowie die aktuellen Demonstrationen, auch von Amtenthebungsbefürwortern, deuten darauf hin, dass nicht nur junge Menschen in Brasilien von der aktuellen korrupten politischen Parteienlandschaft müde sind und viele Menschen nach neuen demokratischen Kräften suchen. Die in viele Untergruppen zersplitterten sozialen Bewegungen stehen vor der Herausforderung, wieder stärker gemeinsam mit den Menschen auf der Straßen für Gerechtigkeit und Demokratie und gegen die massive Korruption durch Politiker und Oberschicht zu kämpfen.


 

„Wir kämpfen seit Jahrzehnten für die Demokratie. Wir sehen, dass konservative und sogar diktaturfreundliche Kräfte diese Demokratie beschneiden wollen. Wir treten mit großen Teilen der brasilianischen Zivilgesellschaft dafür ein, dass es mehr Rechte, weniger Ungleichheit und die Möglichkeit für ein würdiges Leben gibt. Das kann nur in stabilen demokratischen Strukturen gelingen, deshalb lassen wir nicht nach in unseren Bemühungen, die Demokratie in Brasilien zu verteidigen!“

MISEREOR-Projektpartner CPT im Amazonasgebiet

Über den Autor: Stefan Kramer ist Leiter der MISEREOR-Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilien.

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Stefan Kramer leitet die MISEREOR Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilia/Brasilien.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Avatar-Foto

    Hallo Herr Kramer,

    so, nun bekommen sie nochmal meine Kontaktdaten. Übrigens: Guter Blog, werde ich jetzt mal häufiger reinschauen.

    Beste Grüße
    Andreas Nöthen

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