Am oberen Amazonasstrom, im Grenzgebiet zwischen Brasilien, Kolumbien und Peru, lebt das indigene Volk der Kokamas. Einst waren sie mit über 70.000 Menschen das zahlenmäßig größte indigene Volk im Amazonas. Heute sind es noch knapp 8.000 Kokamas, die auf brasilianischer Seite leben. Mit der Besiedlung des Amazonasstromes durch die „Weißen“, hat sich ihre Anzahl stark verringern und durch den direkten Kontakt mit Siedlern haben sie weitgehend ihre Traditionen sowie ihre Sprache verloren. Nur noch wenige sprechen heute Kokama.
Wie viele andere indigene Völker im Amazonas, leben die meisten Kokamas in absoluter Armut. Einst waren ihre Gewässer reich an Fischen und die Wälder um ihre Dörfer voller Wild. Dies ist Vergangenheit. Heute ernähren sie sich hauptsächlich von selbst angebauten Maniokknollen und Kochbananen und an guten Tagen von Fisch. Eine einseitige und kalorienarme Kost. Hunger, Fehlernährung und der Mangel an Identität und Lebensfreude prägen heute das Bild unter den indigenen Völkern Brasiliens und breiten sich aus wie ein Virus.
In der Hoffnung auf Bildung und eine bessere Zukunft, zieht es viele Jugendliche aus den indigenen Dörfern in die Städte, häufig ohne darauf vorbereitet zu sein, was sie dort erwartet. Prostitution, Menschen- und Drogenhandel machen im Grenzgebiet mit Peru und Kolumbien den unerfahrenen, jungen Menschen zu schaffen und so manch ein Jugendlicher findet nicht mehr den Weg zurück nach Hause in seine indigene Dorfgemeinschaft. In Kleinstädten wie Atalaia do Norte oder Benjamin Constant sind bereits 60 % der Bevölkerung jünger als 25 Jahre, etwa die Hälfte von ihnen sind indigenen Ursprungs.
Die indigenen Völker Brasiliens sehen einer düsteren, existenzbedrohenden Zukunft entgegen. Statt in Zeiten der Umweltzerstörung und des Klimawandels für ihre Beispielhaftigkeit im Zusammenleben mit der Natur und im Schutz des Amazonaswaldes ausgezeichnet zu werden, müssen sie sich permanenten Diskriminierungen oder Bemitleidung widersetzen und werden mehr und mehr an den Rand der brasilianischen Gesellschaft gedrängt. Seit Jahren fährt die brasilianische Regierung eine Politik, welche die Land- und Autonomierechte indigener Völker angreift und deren Kultur und Lebensform unterdrückt. Wenige Monate nach der Machtübernahme durch die neue Regierung von Michel Temer kündigt sich bereits eine weitere Verschlechterung an. Gemeinsam mit dem starken rechten Flügel der „Ruralisten“ will das Kabinett Temer im Kongress die neue Gesetzesvorlage „PEC 215“ durchdrücken. Durch das neue Gesetz will man den indigenen Völker Millionen Hektar an Land enteignen, das dann der Agrarfront und riesigen Bergbauprojekten zur wirtschaftlichen Ausbeutung bereitgestellt werden soll. Die Lage ist so ernst wie nie zu vor. Doch wer hört weitab in den Großstädten Brasiliens, in Nordamerika oder in Europa das leise Weinen der vielen Mütter, die ihren Kindern keine Zukunft anbieten können. Trotz der zunehmenden Nachrichten über Ungerechtigkeiten und Gewalttaten gegen die Ureinwohner Brasiliens sind es noch viel zu wenige, die sich mit den indigenen Völker Lateinamerikas solidarisieren und für den Erhalt des Ökosystems Amazonas und den dort lebenden indigenen Völkern ihre Stimme erheben.
Über den Autor: Stefan Kramer leitet die MISEREOR Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilia.