Kurz nach der Morgendämmerung erreichen wir in einem kleinem einmotorigen Boot die indigene Gemeinde Monte Santo im Munizip São Paulo de Olivença. Das kleine, am Jandaituba-Fluss gelegene Dorf ist bereits voller Leben. Begleitet werde ich von Clistanes und Cleane, zwei Ordensschwestern und Diuany, einem Kaziken (Häuptling) aus dem Dorf Jordania.
Die beiden schmächtigen Frauen koordinieren ein von Misereor unterstütztes Projekt, welches die indigenen Völker der Kokamas und Tikunas sowohl bei der Rückgewinnung ihres traditionellen Wissens im Zusammenleben mit der Natur, als auch in ihrem Selbstwertgefühl stärken soll. Dieses ist vielen indigenen Gemeinden am Amazonasstrom in Folge der Kolonialisierung und des Kontakts mit den „Weißen“ weitgehend verloren gegangen.
Die lebende Schule – Aula Viva
Die Schwestern machen sich bei ihrer Arbeit in den Dörfern die Methode „Aula Viva“, zu Deutsch „lebende Schule“, zu Nutze. Gemeinsam mit verschiedenen Kaziken der Region, haben sie diese Methode in einem Workshop der Stiftung FUCAI (Fundacíon Caminos de Identidad) in Kolumbien kennengelernt. Der „Aula Viva“-Ansatz geht davon aus, dass im Amazonasgebiet, einem der reichhaltigsten Ökosysteme der Welt, niemand wirklich unter Nahrungsmittelmangel leiden muss, weil Klima und Vegetation den Menschen alles bieten, was sie zum Leben brauchen.
In den viertägigen Schulungen teilen sich die Teilnehmenden am ersten Tag in kleine Gruppen auf, um aus Wäldern, Feldern und Gärten alle möglichen Früchte, Samen und Knollen zusammenzutragen. Anschließend tauscht man sich darüber aus, was man im „Aula Viva“-System pflanzen möchte und wie man dies am besten macht. Am zweiten Tag des Workshops, werden die bereits vorher getrocknete Samen, Knollen, Stecklinge und Baumsetzlinge im Mischkulturanbau auf, von den Gruppen angelegte Agroforstparzellen gepflanzt. Den letzten Tag verbringt, die bis zu 120 Teilnehmer zählende Gruppe vorrangig an der Kochstelle. Hier geht es darum, die unterschiedlichsten Kenntnisse und Erfahrungen in den Zubereitungen verschiedenster Speisen und Gerichte zusammenzutragen, über gesunde Ernährung zu sprechen, Rezepte auszutauschen und den Anwesenden vor Augen zu führen, wie reichhaltig doch der Speiseplan aus lokalen Produkten sein kann.
Im Dorf treffen wir Nilson, den Vater des Kaziken, der gerade vor seinem Haus eine riesige Axt schleift. Der etwa siebzigjährige Mann lädt uns zu einer kleinen Stärkung in sein Haus ein, die wir dankend annehmen.
Während uns hervorragend schmeckender Maniokbrei und gebratene Kochbananen serviert werden, kündigt ein riesiger, auf dem Dach angebrachter Lautsprecher den bevorstehenden „Mutirão“ an (dies ist die brasilianische Bezeichnung für die gemeinschaftliche Feldarbeit), die heute auf dem Land von Nilson stattfindet. Kurz darauf machen wir uns auf den Weg zur etwa halbstündig entfernten Waldparzelle. Mit einem langen Buschmesser ausgestattet, werde ich am heutigen Tag die agroforstwirtschaftliche Pflanzung nach dem Modell „Aula Viva“ am eigenen Leibe kennenlernen.
Während des Fußmarsches kommen wir an kleineren, durch Brand gerodeten Pflanzungen vorbei. Nilson erklärt mir, dass, so lange er denken kann, die Menschen im Dorf ihre kleinen Äcker durch die Rodung mit dem Feuer bebauen. Laut Dinuay und einem der lokalen Berater in „Aula Viva“ ist die Brandrodung ineffektiv. Zu viele Nährstoffe im Boden gehen verloren, sodass man den Acker nach solch einer Rodung maximal noch zwei Jahre bebauen kann. Danach gibt der Boden nährstofftechnisch nichts mehr her. Außerdem kann man die Felder bei dieser Methode nur während der kurzen Trockenperiode anlegen. Dank der bei FUCAI gelernten agroforstwirtschaftlichen Methode verzichtet Nilson inzwischen vollkommen auf die, wie er sagt, sehr arbeitsintensive Brandrodung und fügt hinzu: „Nie mehr Brandrodung!“
Gemeinschaftliche Arbeit im Wald
Am Ziel angekommen, teilen wir uns in kleinere Gruppen ein. Die junge Kokamafrau Andreia, die ebenfalls mit dem „Aula Viva“-System eng vertraut ist, erklärt mir, dass bei diesem agroforstwirtschaftlichen System erst das Gestrüpp und kleine Bäume mit dem Buschmesser geschlagen und zerkleinert werden. Erst danach werden Stecklinge und Knollen gepflanzt, sowie Samen von Obstbäumen und Edelhölzern gesät. In der dritten Phase werden dann, mit Hilfe von Motorsägen, Äxten sowie den Buschmessern, die restlichen Bäume geschlagen und zerkleinert. Abschließend werden Bananenstauden und Baumsetzlinge gepflanzt. Bis zu 70 in der Region verbreitete Pflanzen können nach dem System angebaut werden.
Die Arbeit beginnt: Mit Geschick und Ausdauer arbeiten Frauen und Männer, mit Äxten und Buschmesser ausgestattet, am Fällen und Zerkleinern der Bäume. Nach anfänglichem Übereifer werfe ich selbst, bereits zum Mittag mit offenen Blasen an meinen Schreibtischfingern, das Handtuch. Nach dem Mittagessen stemmen die Männer mit langen Ästen Löcher in den humusreichen Boden, in die dann die Frauen Maniokstecklinge, Knollen und Samen legen. Am heutigen Tag werden Bananenstauden, Orangen- und Mangosetzlinge, Maniok, Jams, Süßkartoffeln sowie Erdnüsse, Bohnen, Mais und Palmenarten wie Tucuma und Açai gepflanzt. Während der anstrengenden Arbeit wird trotzdem viel erzählt und gelacht.
Agroforstwirtschaft, eine echte Alternative
Nachdem Stecklinge, Knollen und Samen unter dem Boden sind, werden die restlichen Bäume gefällt, nur Palmen und der ein oder andere Obstbaum werden stehen gelassen. In dieser Phase geben die lauten Geräusche der zwei rasselnden Motorsägen den Ton an. Bäume fallen in alle Richtungen zwischen den arbeitenden Menschen, und mir stellt sich die Sicherheitsfrage. Hier und da halten Frauen kurz an, gehen einen Schritt zurück und lachen laut, wenn ein Baum einmal nicht weitab vor ihren Füßen auf den Boden donnert. Die Männer erweisen sich als wirkliche Experten im Umgang mit den Motorsägen, alle Bäume fallen genauso wie man es will. Erst als der Jesuitenpfarrer Valerio die Motorsäge in die Hand nimmt, macht sich bei der ein oder anderen jüngeren Frau Stirnrunzeln und Augenzwinkern bemerkbar. Doch auch dieser zeigt sein Geschick am Gerät, auch wenn der ein oder andere Baum nicht ganz in die geplante Richtung fällt. Kurz vor der Dämmerung ist man mit der Arbeit fertig. Bevor es zurück ins Dorf geht, wird in der Gruppe noch einmal über die Arbeit und das neue Anbausystem gesprochen. Der Dorflehrer Prudencio schlägt vor, die Arbeit in der Gruppe auch auf andere Aktivitäten im Dorf ausweitet. Für alle war es ein schöner und erfolgreicherer Tag. Mir selbst wurde während des „Mutirão“ erst so richtig bewusst, wie stark doch das Gruppengefüge unter indigenen Menschen ist und wie eng sie mit dem Wald verbunden sind.
Während auf der brasilianischen Seite die Anwendung der Methode „Aula Viva“ noch in den Kinderschuhen steckt, konnten in Kolumbien dank der seit 2011 vom MISEREOR-Partner FUCAI verbreiteten Methode, bereits größere Erfolge erzielt werden – Mehr als 1.000 Familien arbeiten dort inzwischen mit der Methode. Ganze Dörfer haben die traditionelle Brandrodung eingestellt und bestellen stattdessen ihre landwirtschaftlichen Parzellen im nachhaltigen agroforstwirtschaftlichen Anbau.
Über den Autor: Stefan Kramer ist Leiter der MISEREOR-Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilien.