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BRICS-Sozialforum in Goa: „Für Solidarität und Partizipation“

Goa ist längst keine Hippie-Hochburg mehr. Auch wenn dieser Ruf dem kleinsten indischen Bundesstaat seit über 40 Jahren anhaftet. Bereits in den späten 1960er Jahren pilgerten die ersten Aussteiger aus dem Westen an die weitläufigen Strände am Arabischen Meer. Von Konsumismus und Raubbau an der Natur konnte im beschaulichen Goa nicht die Rede sein. Heute allerdings ist die ehemalige portugiesische Kolonie pauschaltouristisches „Urlaubsparadies“ für Millionen aus dem In- und Ausland. Dies macht Goa zu einem Brennpunkt neoliberaler Wachstumsideologie, welche die Politik der „emerging economies“ wie Indien immer mehr dominiert. Gleichzeitig aber nimmt der zivilgesellschaftliche Widerstand in diesen Ländern zu.presidential-press-and-information-office-kremlin-ru

Am vorvergangenen Wochenende wurde diesem Konflikt ein Gesicht gegeben: Vom 15. bis 16. Oktober trafen sich in Südgoa die Staatschefs der fünf größten aufstrebenden Volkswirtschaften des „globalen Südens“ zum achten BRICS-Gipfel (BRICS ist das aus den Anfangsbuchstaben der teilnehmenden Staaten gebildete Akronym). Auf der anderen Seite des Mandovi-Flusses fand im Norden des Bundesstaates das People’s Forum on BRICS statt. Das Sozialforum versammelte über 400 Aktivistinnen und Aktivisten aus NGOs, Vertreterinnen und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, darunter auch Partner von Misereor, Engagierte von Gewerkschaften und Umweltverbänden sowie unabhängige Intellektuelle aus Indien und anderen BRICS-Ländern, um alternative, sozial und ökologisch verträgliche Entwicklungsszenarien für die BRICS-Länder und darüber hinaus zu entwerfen.

Während sich die Staatschefs Temer (Brasilien), Putin (Russland), Modi (Indien), Xi Jinping (China) und Zuma (Südafrika) im exklusiven Resorthotel Taj Exotica versammelten, um primär Wirtschaftsvereinbarungen und Rüstungskooperationen zu unterzeichnen sowie neue Partnerschaften in der Terrorismusbekämpfung auszuhandeln, ging es im beschaulichen Porvorim am Xavier Centre of Historical Research um gesellschaftliche Partizipation marginalisierter Gruppen, um Menschenrechte und Solidarität, um soziale und Gender-Gerechtigkeit, um Umweltschutz und inklusives Wirtschaften.

Diese brennenden Fragen fanden im erlauchten Kreis der BRICS-Staatenlenker kaum Berücksichtigung. Galt die BRICS-Allianz in ihrer Gründungszeit noch als Gegenentwurf zur Hegemonie des Westens und „ihrer“ Globalisierung, ist die anfängliche Hoffnung auf eine nachhaltige Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses durch die BRICS-Allianz längst verflogen. Im Gegenteil stellte das People’s Forum fest, dass in allen BRICS-Staaten restaurative und reaktionäre Tendenzen die Oberhand gewinnen: Korruption ist weit verbreitet, die Budgets für Soziales werden massiv gekürzt, Meinungs- und Versammlungsfreiheit teils massiv eingeschränkt und zivilgesellschaftliche Aktivitäten unterbunden, Kritik und Widerstand werden kriminalisiert.

In den zahlreichen Workshops und auf den Diskussionsveranstaltungen am Xavier Centre, einem von den Jesuiten geführten Forschungsinstitut, befasste man sich mit den sozialen Kämpfen gegen die Hegemonie des neoliberalen Projektes. Unter anderem wurde die Frage nach der demokratischen Kontrolle der BRICS-Entwicklungsbanken erörtert, die faktisch zu wünschen übrig lässt. Indem diese Banken den Vorgaben der etablierten Finanzinstitutionen folgten, seien sie doch nur „alter Wein in neuen Schläuchen“, so die Kritik auf dem Forum. Außerdem war der Klimaschutz in den BRICS-Ländern prominentes Thema, denn sie sorgen immerhin für 43% der globalen Emissionen und setzen weiterhin auf Kohle als Hauptenergieträger. Mit der Frage nach der zukünftigen Energieversorgung verband sich für viele Teilnehmende auch die Machtfrage im fossilen Kapitalismus: Ein Übergang zu regenerativen Energien rüttele an den hergebrachten oligopolen Strukturen und könne auch der Arbeiterschaft zu mehr Handlungsspielraum verhelfen. Weitere Veranstaltungen befassten sich mit der Frage nach der Nahrungsmittelsicherheit in Zeiten „freier Märkte“.

Obgleich der Paradigmenwechsel durch BRICS nicht eingetreten ist, richtete das People’s Forum den Blick nach vorn: Es sei insbesondere an der Zivilgesellschaft der „aufstrebenden“ Entwicklungsländer, das „Modell neoliberaler Entwicklung“ zu beenden und die Politik vom Fetisch des „exportorientierten Wachstums“ zu verabschieden. Die bisherige Entwicklung sei der falsche Weg, sie basiere im Wesentlichen auf „billigen Arbeitskräften, zunehmender Ungleichheit und Finanzspekulation sowie der Ausbeutung durch multinationale Konzerne“ und habe daher langfristig keine Zukunft.

Einhellig hielt das Forum fest, dass eine stärkere BRICS-weite und internationale Vernetzung von progressiven Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, der Zivilgesellschaft und Kirchen sowie öffentlichen Intellektuellen ein wichtiger Schritt seien, um BRICS langfristig ein neues Gesicht zu geben und eine alternative Entwicklung voranzubringen. Auf kleine und doch entscheidende Erfolge wurde auf dem Forum abschließend hingewiesen: Der Protest gegen sogenannte Freihandelsabkommen ist auch in den BRICS-Ländern unüberhörbar. Auf die teils sehr erfolgreichen Kämpfe sozialer Bewegungen gegen industrielle Großprojekte und das Unterlaufen sozialer und ökologischer Standards durch multinationale Konzerne sowie den Kampf gegen Landenteignungen gerade auch in Indien wurde zu Recht mit Stolz hingewiesen.

Im Taj Exotica mag man über diese „kleinen Fische“ lächeln. Doch auf dem People’s Forum war man sich einig, dass sich nur dann etwas ändert, wenn „die vielen kleinen die großen Fische vor sich hertreiben“, wie es eine NGO-Vertreterin versinnbildlichte. Die Hoffnung, dass der Schwarm bis zum Folgetreffen in China im kommenden Jahr wächst und sich der öffentliche Druck erhöhen lässt, war am Xavier Centre in Nordgoa deutlich spürbar.

Über den Autor: Thomas Stauber* stellte uns diesen Artikel unter Pseudonym zur Veröffentlichung zur Verfügung.

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