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In Erinnerung an die verlorene Generation – die Genozidgedenktage

Ruanda, April 1994. Der ganzen Welt ist es noch gut im Gedächtnis, und die Wunden der ruandischen Bevölkerung sind noch frisch. 23 Jahre ist es nun her, dass der seit der Kolonialzeit bestehende und auf Rassendiskriminierung beruhende Konflikt zwischen den zwei der drei Völkergruppen des Landes, Abahutu und Abatutsi, in einem grausamen und blutigen Gemetzel endete.

„Völkermord“ ist in Ruanda ein heikles Thema. Viel zu klar sind noch die Bilder in den Köpfen der Menschen – Bilder von verlorenen Familienmitgliedern und Freunden, Bilder von grausamen Folter- und Tötungsszenen. Noch heute kann man die Auswirkungen des Völkermordes auf die ruandische Bevölkerung sehen.  Das Durchschnittsalter in Ruanda liegt bei 18 Jahren, wirklich alte Menschen sieht man selten auf den Straßen. Viel zu viele junge Erwachsene wuchsen als Waisen auf der Straße oder als Flüchtlinge im Kongo, Tansania, Uganda und Burundi auf, zu viele Kinder lernten ihre Großeltern nie kennen.

Der Genozid von 1994 ist als einer der schlimmsten Völkermorde der Welt in die Geschichte eingegangen – ein Konflikt, bei dem die westliche Welt nahezu tatenlos zusah, und für den das Handeln der UNO noch heute weltweit kritisiert wird. Ein Konflikt, mit dem Ruanda allein fertig werden musste, und der in nur wenigen Wochen so viel zerstört hat, dass das Land immer noch an den Folgen zu kämpfen hat.

Über eine Millionen Menschen verloren völlig grundlos ihr Leben; etwa 75 Prozent der Tutsi-Minderheit wurde ausgelöscht. Die jahrelange Ungleichbehandlung der Ethnien Abahutu, Abatutsi und Abatwa durch Kolonialmächte wie Deutschland und Belgien, die die Gruppierungen gemäß ihrer Vorstellung von Rasse neu definierten und so den Tutsi eine Reihe von Privilegien und Höherstellungen zuwiesen, hatte großen Hass unter der Hutu-Mehrheit geschürt. So war es nach Erreichen der Unabhängigkeit Ruandas nur eine Frage der Zeit, bis der unter der Oberfläche brodelnde, schon jahrelang bestehende Konflikt eskalieren würde.

Ruandas Umgang mit seiner Geschichte

Ebenso unmöglich wie beiläufige oder kritische Gespräche über Politik, so bleibt auch der Genozid im Alltag verschwiegen. Über ein halbes Jahr lebe ich schon hier, und nicht einmal habe ich einen einzigen Menschen über die ruandischen Ethnien oder die Geschehnisse von 1994 aktiv reden hören – maximal, wenn ein Jugendlicher davon sprach, dass er aufgrund des „Bürgerkrieges“ in Ruanda im Kongo aufgewachsen sei.

Begründen lässt sich das sicherlich damit, wie jung die Geschehnisse von 1994 noch sind, und wieviel in so kurzer Zeit im Land angerichtet wurde. Vergleicht man die Situation mit Deutschland, so muss man sich eingestehen, dass auch wir erst spät damit angefangen haben, uns aktiv mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen. Etwas so Gewaltiges wie ein Krieg, Massen- oder Völkermord braucht Zeit, um verarbeitet zu werden. Dazu kommt, dass Ruandas Bevölkerung in ihrer Meinung zwar wesentlich freier ist als andere afrikanische Länder, es jedoch noch immer gewisse „Tabu-Themen“ gibt. Der Umgang Ruandas mit seiner Geschichte ist so natürlich auch von der Regierung beeinflusst. In wieweit, kann und möchte ich nicht beurteilen.

Dennoch heißt das natürlich nicht, dass die Völkergruppen mit einem Mal völlig unter den Teppich gekehrt werden. „Es ist noch immer so, dass Kindern, wenn sie älter sind, gesagt wird, welcher Völkergruppe sie entstammen“, hat uns ein Kollege einmal gesagt, als im Rahmen einer Ausstellung über den Genozid gesprochen wurde. „Aber was sie überall – in der Familie, in der Schule, und im Alltag – lernen, ist, dass wir alle nichtsdestotrotz ein Volk sind: die Abanyarwanda.“

KWIBUKA 2017: Remembering

So verschwiegen die schrecklichen Ereignisse von 1994 im ganzen restlichen Jahr sind, so sehr wird dem Massenmord an der Tutsi-Minderheit in einer Woche des Jahres gedacht: der Genozidgedenkwoche, die dieses Jahr vom Freitag, dem 7. bis zum kommenden Freitag, dem 14. April andauerte.

Schon vor der Woche war uns einiges über deren Ablauf erklärt worden. So zum Beispiel, dass in diesen Tagen bei VJN nur bis mittags gearbeitet und dass jeden Nachmittag von 14 bis 17 Uhr Versammlungen für die Bevölkerung einberufen werden würden. Anstelle der sonst so fröhlichen afrikanischen Rhythmen würden überall traurige Lieder zum Thema Genozid gespielt werden und Bars und Clubs hätten nicht geöffnet.

Für uns Freiwillige, die wir nun schon lange genug in Ruanda leben, um Land, Menschen und Kultur etwas besser zu kennen, war das eine ganz außergewöhnliche Erfahrung. Wir hatten die Chance, so sehr Teil einer anderen Kultur zu werden, dass wir sogar das, was sie an Last und Bürde mit sich trägt, in diesen Tagen des Gedenkens so gut es geht nachempfinden konnten.

Tatsächlich konnte ich die etwas gedrücktere Stimmung in den Tagen des Gedenkens deutlich spüren. Für viele Menschen kamen Erinnerungen auf, die sie für den Rest des Jahres erfolgreich verdrängt hatten. So erzählte uns zum Beispiel ein Kollege die Geschichte seines Vaters, eines Hutu, der mehrere Tutsi zuhause versteckt hatte und dessen Frau ebenfalls eine Tutsi war. Am 9. April stürmte die Hutu-Miliz sein Haus und drohte, seine Frau umzubringen. Um die Mutter unseres Kollegen zu retten, bat der Mann sie, ihn ihr vorzuziehen. So brachte eine eigene Völkergruppe erst ihn und dann die versteckten Tutsi um, die sie wenig später im Haus fanden.

Man merkte in der Woche, dass die Bevölkerung das Gedenken sehr ernst nahm. Gegen 14 Uhr waren die Straßen wie leergefegt, weil jeder entweder bei den öffentlichen Veranstaltungen oder bei innerfamiliären Zusammentreffen war. Die Frage, die an der Stelle natürlich bleibt, ist, ob die Verpflichtungen und Verbote in dieser Woche von den Menschen wahrgenommen wurden, weil es in ihrem eigenen Sinne war, oder weil die Regierung es so vorgeschrieben hat. Ich als Außenstehende denke, dass darüber vermutlich auch zwischen den Ruandern unterschiedliche Ansichten herrschen. Für die jüngeren Generationen, die nach 1994 geboren sind, war das Ganze teilweise nicht so gut nachvollziehbar, während viele der Älteren einige harte Tage des Gedenkens durchlebten.

Über den Genozid gesprochen wurde nichtsdestotrotz noch immer kaum. Bis auf die nachmittäglichen Veranstaltungen und sonstigen kleinen Änderungen versuchten die Menschen, so weiterzuleben wie immer, und kaum einer konnte es sich leisten, das Geschäft den ganzen Tag über zu schließen.

Am letzten Gedenktag hatten Charlotte und ich uns noch vorgenommen, an der Abschlussveranstaltung teilzunehmen, die im Centre von VJN stattfinden würde. Wir hatten zuvor gefragt, inwieweit es die Menschen stören könnte, wenn Weiße an einer solchen Versammlung anwesend wären, aber unsere Kollegen versicherten uns, dass das auch schon andere Freiwillige vor uns getan hätten. Dennoch, als zu Beginn eine Menschenmenge von mehreren 100 Personen zu trauriger Musik in die Turnhalle marschierte, fühlten wir uns doch etwas fehl am Platz, und uns entgingen nicht die Blicke einiger Ruander. Aus Respekt zu der Trauer der Menschen hielten wir uns also im Hintergrund und sahen dem Ganzen vom Eingang der Halle zu. Zuvorderst war eine Tribüne aufgebaut worden, auf der, einer Konferenz gleich, mehrere schick gekleidete Frauen und Männer an einer langen Tischtafel saßen. Die Versammlung begann mit einigen Liedern des daneben stehenden Chores. Dann berichtete eine Frau aus dem Publikum von ihren Erlebnissen während des Völkermordes. Wie uns ein  Jugendlicher übersetzte, sagte sie, dass der Genozid schon lange vor 1995 begonnen habe. Er hätte schon lange festgestanden, bevor die Bevölkerung selbst es wusste. Ich schnappte zudem noch das Wort „Kopf“ auf, was keinen Zweifel daran ließ, dass sie bis ins kleinste, grausamste Detail berichtete, was sie gesehen hatte.

Irgendwann sind wir gegangen, um die Menschen allein zu lassen. Auch wenn mehrere Leute uns anboten, dass wir ebenfalls Platz nehmen dürften, wussten wir, dass das eine Sache zwischen den Ruandern war. Eine Sache, die wir ihnen lassen sollten.

Rwanda nziza – schönes Ruanda. Ein wunderschönes Land, dessen tausend Wunden noch immer verheilen müssen.

 

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Yasmin absolviert ihren Freiwilligendienst im Projekt Vision Jeunesse Nouvelle in Gisenyi, Ruanda.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Avatar-Foto

    Liebe Yasmin,
    vielen Dank für diesen tollen Beitrag. Ich finde, du bzw. ihr habt euch dem Thema sehr behutsam genähert, was sicherlich auch richtig ist. Ich finde es sehr gut, dass ihr nicht verurteilt, dass man in Ruanda nicht oder fast nicht über dieses Thema spricht. Denn wir können das von außen nicht beurteilen. Es dauert, bis so etwas verarbeitet ist. Du hast ganz Recht. Hier in Deutschland können oder wollen viele, die die NS-Zeit erlebt haben, auch nicht darüber sprechen. Fühlen sich sicherlich auch oft schuldig.
    Danke für’s Erinnern daran, dass hier mal wieder die Menschheit einfach nur zugesehen hat …
    LG aus Aachen, Uta

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