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Brasilien: Die schamlose Selbstbedienung der politischen Elite

Wie eine Bombe ist in ganz Brasilien die Nachricht aus dem Obersten Gerichtshof zur Freigabe der Korruptionsermittlungen gegen 98 führender brasilianische Politiker eingeschlagen. Unter den Verdächtigten ist die gesamte politische Spitze des Landes: acht aktuelle Minister, 24 Senatoren, 37 Parlamentsabgeordnete, 3 Gouverneure und 5 ehemalige Präsidenten. Auch gegen Temer selbst bestehen Anschuldigungen, doch genießt dieser als Staatspräsident Immunität, so dass gegen ihn nicht ermittelt werden darf. Die Beschuldigungen berufen sich auf Zeugenaussagen von 77 Managern des Baugiganten Odebrecht, der im Lava Jato (Autowäsche) Skandal mehr als 700 Millionen Euro an Schmiergeldern unter brasilianische Politiker verteilt haben soll. 

Flagge Brasiliens

Zu denjenigen, die nach den Anschuldigungen Bestechungsgelder erhalten haben, zählen unter anderem der Senatspräsident Eunício Oliveira (von der Partei PMDB) und der Präsident des Unterhauses Rodrigo Maia (von der Partei Democratas), formell hinter Temer die Nummer zwei und drei im Staat. Der Vorgänger von Rodrigo Maia, Eduardo Cunha (PMDB) wurde im März wegen Bestechlichkeit zu 15 Jahren Haft verurteilt. (Er nahm 1,5 Mio US$ Bestechungsgelder von Odebrecht an im Zusammenhang mit Geschäften in der Republik Benin in Afrika.)

Der Korruptionsskandal zieht sich durch alle wichtigen Parteien. Bei der rechten PSDB-Partei, die sich sehr große Hoffnung auf die Präsidentschaftswahlen  2018 macht, stehen gleich alle drei Spitzenpolitikern, die Senatoren Aécio Neves und  José Serra sowie der  Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alkmin, unter Beschuss. Insbesondere für Neves als auch für Serra dürfte es für eine erhoffte Kandidatur als Staatspräsident  düster aussehen. Die Anschuldigungen gegen beide sind schwerwiegend. Sollten sich die juristischen Verfahren auch über Jahre hinziehen, ihr politischer Ruhm ist zweifelsohne ruiniert. Gegen die beiden Expräsidenten Lula da Silva und Dilma Rousseff  von der Arbeiterpartei PT, sowie gegen die Spitzenfunktionäre der PMDB, Roméro Juca, Elesiu Padilha und Renan Calheiros wird ebenfalls ermittelt. Von ihnen allen dürfte Dilma Rousseff wohl noch am besten schlafen können, da ihr zum aktuellen Zeitpunkt keine direkten Verbindungen zu Odebrecht nachgesagt werden.

Die politische Zukunft von Temer selbst ist höchst ungewiss. Bereits in den ersten Monaten seiner Amtszeit musste Temer sieben seiner Minister austauschen, die meisten wegen Korruptionsverdächtigungen. Seit vergangener Woche wird gegen acht weitere Kabinettsmitglieder ermittelt. Der in Brasilien sehr unpopuläre Präsident scheint aber die faulen Gerüche um ihn nicht wahrnehmen zu wollen. Stattdessen kämpft er mit aller Macht darum, seine in der brasilianischen Gesellschaft scharf kritisierten Sparprogramme im Parlament durchzudrücken. Diese richten sich vor allem gegen die ärmeren Bevölkerungsschichten. Es wird befürchtet, dass Millionen von Brasilianern erneut in die Armut abdriften. Laut Weltbank soll die Zahl der armen Menschen bis Ende 2017 um mehr als 3 Millionen ansteigen. Gleichzeitig nimmt der Widerstand gegen die Temer-Regierung zu. Allein im März gingen über eine Million Menschen auf die Straße, um gegen Temer und seine umstrittene Arbeitslosen- und Rentenreform zu demonstrieren. Das Land kommt auch in 2017 nicht zur Ruhe.

Anfang des Jahres gingen die erschütternden Bilder der Gefangenenrevolten und Bandenkriege in brasilianischen Justizanstalten um die Welt, bei denen der Tod von über 130 Menschen erneut auf die unmenschlichen Verhältnisse im brasilianischen Strafvollzug aufmerksam machte. Im März machte Brasilien mit dem Gammelfleisch-Skandal Schlagzeilen und jetzt lesen wir die unglaublichen Berichte über die skrupellosen Machenschaften zwischen Großunternehmen und der politischen Elite. Die aktuellen Aufdeckungen scheinen nur die Spitze eines riesigen Eisberges an Korruption zu sein. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die nächste Bombe einschlägt.

Über den Autor: Stefan Kramer ist Leiter der MISEREOR-Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilien.

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Stefan Kramer leitet die MISEREOR Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilia/Brasilien.

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