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Zwischen allen Stühlen – Eindrücke aus einem Vertriebenen-Camp im Nordirak

„Wir leben wie Gemüse im Treibhaus,“ sagt der bärtige Mann und macht eine ausholende Bewegung in die Ebene vor dem Fenster.

Dort in der baumlosen Weite am Fuß einer Hügelkette erstreckt sich eines der vielen Lager für Vertriebene im Nordirak. Die Sonne brennt vom Himmel und ab und zu rüttelt der Wind an den Zelten und treibt Staubwolken bis in die kleinsten Ritzen. Unter den Zeltplanen ist es heiß – noch. Denn in einigen Wochen wird langsam die kalte Jahreszeit anbrechen und dann werden wieder die Kerosin-Öfen brennen und die Zelte werden gegen die Kälte nur unzureichend schützen. Es sind jesidische Familien, die hier etwas außerhalb von Dohuk seit über vier Jahren ausharren und die weder vor noch zurück können.

Ihre Heimat, die Region um das lang gestreckte Sinjar-Bergmassiv, ist nicht sicher. Kurdistan ist ein Mosaik aus verschiedensten Gruppen und Allianzen, die über Jahre friedlich zusammengelebt haben und doch immer wieder aufs Neue Konflikte untereinander austrugen. Es ist ein Gebiet, in dem auch die Nachbarstaaten Syrien, Türkei und Iran grenzüberschreitendes Interesse haben und Einfluss. Minderheiten hat es in diesem bunten Mosaik immer gegeben. Um ihren Status kämpfen alle Gruppen und durch die Verwerfungen ist Vertrauen verloren gegangen.

Ob aus diesem vielschichtigen Gewebe ein friedliches Ganzes werden kann und wie ein solches Gebilde politisch aussieht, ist Teil leidenschaftlicher Diskussion fast jeden Abend. Der Wunsch nach einem gesicherten und geschützten Zusammenleben ist groß.

Die Jesiden im Camp würden gerne zurückkehren, aber vor Ort sind viele Basisdienste nicht wiederhergestellt, Strom- und Wasserversorgung sind unzureichend, Häuser sind zerstört, Altlasten durch Waffen nicht geräumt. Zudem sind die Gemeinschaften auseinandergerissen und in verschiedene Camps zerstreut. Auch die soziale Infrastruktur ist in weiten Teilen weggebrochen und viele Menschen kämpfen überdies mit den Nachwirkungen des Erlebten.

Die Wenigen, die es doch versuchen, leben oft nicht in ihren Häusern, da diese nach wie vor unbewohnbar sind und nicht von Minen geräumt. Manche Organisationen sprechen schon von „displaced returnees“, Menschen, die vertrieben sind und es bleiben, obwohl sie in ihren Heimatort zurückgekehrt sind. Ein Misereor-Partner spricht davon, dass Rückkehr immer freiwillig und würdevoll sein muss, das sieht er für diese Region bei Weitem jetzt und absehbar nicht gesichert. 

Hinzu kommt die Angst vor den Nachbarn, vor den Nachbarn in den Dörfern um das Sinjar-Massiv, die jahrelang friedlich zusammenlebten und sich, als der sogenannte „Islamische Staat“ kam und einen Genozid an den Jesiden verübte, gegen sie wandten. Viele sind weiterhin dort und die Frage bleibt, wer Schutz bieten kann. Aber auch die Nachbarn außerhalb der Landesgrenzen haben eigene Interessen in der Region. Die Jesiden als Gruppe sind ein Spielball der Fehde zwischen Erbil und Bagdad geworden.

Und auch die Lage im Camp wird schwieriger. Die Aufmerksamkeit der Medien ist weitergezogen – nach Mossul und in die Ninive-Ebene, zuletzt nach Nordsyrien, von wo neue Flüchtende auch in den Nordirak kommen. Mit der Aufmerksamkeit ziehen auch Organisationen, Geldmittel und konkrete Hilfsangebote weiter an andere Orte. Die Lage im Camp verschlechtert sich zusehends und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit wird bei vielen stärker.

In dieser Lage brechen auch verschüttete Konflikte und psychologische Belastungen noch stärker auf als zuvor.

Zugleich erlebe ich viele energiegeladene und wissbegierige junge Menschen, die danach dürsten, dass dieses Camp für sie kein Endpunkt ist. Die in einem ersten Schritt sich im Camp für die Bedürftigsten einsetzen, Bildungsangebote unterstützen, Kontakte nach außen knüpfen über die Lagergrenzen hinaus. Die für sich und die anderen Bewohner kleine Projekte und Perspektiven schaffen wollen. Die nach wie vor hoffen. Dass es eine sichere und gute Lösung für sie geben kann.

Und dass wir sie nicht vergessen.


Misereor vor Ort

Misereor ist in und um die Vertriebenen-Camps im Nordirak über Partnerorganisationen in verschiedenen Projekten tätig, insbesondere im Gesundheitsbereich und zur psycho-sozialen Betreuung.

Geschrieben von:

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Jonas Wipfler ist Leiter des Berliner Büros von Misereor. Zuvor lebte er drei Jahre in Dakar, der Hauptstadt des Senegals. Dort half er als Berater lokalen Partnerorganisation in Westafrika bei Planung, Monitoring und partizipativen Methoden.

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