Unglaublich, was sich im Laufe der Zeit im Kleiderschrank so alles ansammelt. Unser Autor Till Raether stellt sich den Mode- und Konsumsünden seiner Vergangenheit.
Es gibt für mich eine ganz klare Regel, wenn es darum geht, ob ich mir was Neues zum Anziehen kaufe oder nicht. Sie lautet: nur, wenn ich dafür etwas Altes aussortiere, verschenke, spende oder etwas zerschlissen ist und unbedingt ersetzt werden muss. Eine schöne Regel, finde ich. Leider quill mein Kleiderschran über vor Ausnahmen.
Und ich kann nicht einmal erklären, warum ich so viele Ausnahme- Anziehsachen besitze. Vielleicht liegt es daran, dass ich Einkaufen hasse. Weil ich in jedem Geschäft eine andere Größe habe, weil ich mich im Spiegel nicht von hinten sehen will, erst recht nicht im oft grausamen Licht der Umkleidekabinen. Paradoxerweise führt ausgerechnet meine Einkaufsabneigung zu diesem ungewollten Textilüberschuss in meinem Besitz. Denn das Einkaufen von Kleidung ist mir ein solcher Horror, dass ich jedes Mal zuschlage, sobald ich etwas halbwegs Passendes oder Schönes sehe, weil ich denke: Nimm mit, dann hast du das hinter dir. Oder noch besser: Nimm lieber gleich zwei davon, wenn dir schon mal was passt.
Handelsübliche Kleiderschränke sind sehr tief, sodass man im Laufe der Zeit eine Art doppelte Tuchführung anfängt: vorne die Sachen, die man gern und häufig anzieht, dahinter, im Dunkeln versteckt, die Sachen, von denen man sich nicht trennen kann, die man aber auch nicht jede Woche, jeden Monat oder jedes Jahrzehnt anziehen will. Gegen das, was sich dort verbirgt, ist die Tiefsee vergleichsweise gut erforscht (immerhin zu fast fünf Prozent). In den Tiefen liegt zum Beispiel ein hellbeiger Zopfpullover, der noch aus der Zeit stammt, als ich dachte, ich würde vielleicht eines Tages wie ein Kapitän mit Tagesfreizeit aussehen wollen. Lange her. Ach ja, und diese Dreiviertelhose, die ich in meiner Vorstellung mit Espadrilles kombinieren wollte. Das könnte man von der Mode her jetzt schon wieder machen, aber wenn ich ehrlich bin, möchte ich es noch weniger und es würde mir noch weniger gut stehen als 2009. Und Hemden. Ach, Hemden! Wie viele Berufe wollte ich noch ergreifen, in wie vielen Büros sitzen, mit all diesen Hemden? Man muss dazu sagen, dass ich zehn Jahre lang erst einen und dann zehn Jahre einen anderen Hemden- Tick hatte. Erst trug ich ausschließlich gestreifte Hemden, quasi bei Tag und bei Nacht, und in einer späteren Phase dann hell- bis mittelblaue Hemden. Nun ruhen Dutzende dieser Hemden ordentlich gefaltet in der dunklen Tiefsee meines Kleiderschranks, weil ich denke, vielleicht passen oder gefallen sie mir eines Tages wieder.
Hin und wieder, alle paar Jahre vielleicht, bekomme ich einen Rappel, wie wir Kleiderschranküberversorgten es nennen, und miste aus. Was ja bereits das falsche Wort ist. Denn es ist kein Mist, der da lagert, das Zeug ist ja noch gut. Ich reiße aus dem Schrank, was hinten geschlummert hat, und in einem plötzlichen Blitzlicht der Selbsterkenntnis weiß ich, dass ich in Wahrheit nichts davon je wieder anziehen werde.
Während mir all dies vor dem offenen Kleiderschrank durch den Kopf geht, kommt meine Tochter herein, elf Jahre alt und durch YouTube zu einer Art Königin des Selbermachens ausgebildet. Sie schnappt sich ein paar Sachen: „Dieses Hemd kann ich zum Malen anziehen, das T-Shirt nehme ich zum Schlafen und aus der Shorts nähe ich mir einen Scrunchie.“ Ich war in Gedanken schon dabei, die Sachen zu spenden, auch wenn ich weiß, dass Zopfpullover und Dreiviertelhosen eigentlich nicht gebraucht werden, wo Kleidernot am Mann ist.
Also ist es gut, wenn man Elfjährige mit Upcycling- und Recyclingerfahrung im Haus hat. Sie schlägt mir vor, mit meinen Freunden ein Tauschtreffen zu machen. „Stephan und Wido haben doch auch Sachen, die sie nicht mehr anziehen, und dann trefft ihr euch einfach und tauscht.“ Ich bin skeptisch. Schließlich will ich mich ja nicht mühsam von meinem alten Kram trennen, um den Schrank anschließend mit dem alten Kram meiner Freunde wieder vollzustopfen. Meine Tochter erinnert daran, dass meine Schwester einen hohen Verschleiß an Arbeitshemden habe. Stimmt, sie ist Tischlerin. Und ich freue mich immer, wenn ich alte Sachen an ihr sehe: Es ist, als bekäme man doppelt Besuch, von der geliebten Schwester und dem geliebten abgelegten Hemd. Also wandern acht bis zehn von ihnen schon mal auf den Schwesterstapel. Dann fischt meine Tochter ein paar T-Shirts heraus und sagt: „Erinnerst du dich noch an die Kartoffelstempel, die wir früher gemacht haben? Und die Flicken zum Aufbügeln?“ Sagen wir mal so: Die aufgehübschten Hemden ziehe ich bestimmt nicht zu Kundenterminen an, aber mit Textilfarbe und Bügelflicken verziert amüsieren sie mich und machen mir Freude, was man nicht von ihnen sagen konnte, als sie noch trostlose Schranktiefenbewohner waren.
Am Ende der Altkleiderberatung passiert noch etwas Seltsames, fast Wunderbares: Meine Tochter findet ein paar wirklich unverhandelbar scheußliche Dinge, die sich selbst nach ihren Worten „nur noch als Putzlappen“ eignen. Dann hält sie kurz inne, denkt nach und sagt: „Darf ich?“ und geht mit einem hellgelben T-Shirt, das ich niemals getragen habe, zum allerersten Mal im Leben ihr Fahrradputzen.
Über den Autor: Till Raether ist Kolumnist und arbeitet als freier Journalist in Hamburg, unter anderem für Brigitte, Brigitte Woman und das SZ-Magazin.
Über die Illustratorin: Kat Menschik arbeitet bereits seit 1999 als freiberufliche Illustratorin in Berlin. Die studierte Kommunikationsdesignerin zeichnet für Zeitungen, Magazine und Buchverlage, unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Seit 2016 veröffentlicht Kat Menschik mit „Klassiker der Weltliteratur“ ihre eigene Buchreihe im Berliner Galiani-Verlag.
Dieser Artikel erschien zuerst im Misereor-Magazin „frings.“ Das ganze Magazin können Sie hier kostenfrei bestellen >