Nun hat die vierte „Coronawoche“ begonnen und das heißt die vierte Woche der Kontaktbeschränkungen, beständig steigenden Zahlen von Infizierten und Verstorbenen. Manch einer mag der Einsamkeit des Homeoffices mittlerweile überdrüssig geworden sein oder stöhnt über die Anstrengung der Dauerbeschäftigung unbetreuter, sich zunehmend langweilender Kinder. Dennoch: Nicht alle haben das Privileg, ihre Arbeit im eigenen Wohnzimmer oder über Videokonferenzen zu organisieren. Eine Vielzahl von Menschen im schlecht bezahlten Dienstleistungssektor arbeitet noch härter als sonst, andere bangen um den Verlust von Arbeitsplätzen oder sind durch plötzlich eingetretene Kurzarbeit in Existenznöte geraten. Ebenso verfügen nicht alle über technische Voraussetzungen, das nötige Wissen oder die Zeit, um Kinder beim Home-Schooling gut unterstützen zu können.
Die Krise bedroht Existenzen
Durch die Krise treten soziale und ökonomische Ungleichheiten sowohl auf lokaler/nationaler Ebene und noch drastischer im globalen Zusammenhang hervor. Wenn wir es in Deutschland vermutlich schaffen werden, die Krise aus medizinischer Sicht einigermaßen zu bewältigen und mittelfristig auch die wirtschaftliche Rezension wieder aufzufangen, so zeichnen sich in Partnerländern Misereors dramatische Szenarien ab. Die permanente Verschärfung der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus‘ – wie sie beispielsweise in vielen lateinamerikanischen Ländern vorgenommen wird – ist für einen Großteil der Bevölkerung zunehmend existenzbedrohend. Ausgangssperren bedeuten für viele, die ihren Lebensunterhalt mit informellen Arbeiten sichern, nicht einmal mehr minimale Lebenskosten decken zu können. Kleinbauern und -bäuerinnen können aufgrund fehlender Transportmöglichkeiten nicht mehr zu den Märkten gelangen, um ihre Produkte zu verkaufen. Lebensmittelknappheit unter gleichzeitigem Preisanstieg sind Folgen davon. Einmal mehr können wir mit ansehen, wie Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas Konsequenzen eines globalisierten Kapitalismus am deutlichsten zu spüren bekommen. Der berühmt gewordene Satz von Papst Franziskus „Diese Wirtschaft tötet“ bleibt aktuell.
Zeit der Weichenstellungen
Die diesjährige Kar- und Osterzeit steht also ganz im Zeichen einer Zeit, in der nicht nur alles anders ist als sonst, sondern es ist auch eine Zeit, in der Weichenstellungen für die Zukunft gelegt werden. Zeiten wie diese sind Knotenpunkte der Entwicklung. Wie können wir also Ostern unter den Bedingungen der Coronakrise verstehen und (er-) leben? Ist Hoffnung auf Auferstehung angesichts einer solchen Karfreitagserfahrung, dem Tod und unzähligen Leid, das dieses weltweite epidemiologische Problem mit sich bringt, überhaupt möglich?
Unterbrechung und Aufbruch
Aus theologischer Perspektive birgt Krise auch immer ein gewisses Potential in sich, dass die Situation, aus der heraus sie sich ergeben hat, sich zum Positiven hin wandelt. Krise kann so zu einem Kairos, zu einer Chance, einem Aufbruch zu einer neuen Zeit werden, wenn sie denn ein Innehalten, eine notwendige Unterbrechung und die Erkenntnis, dass Veränderung gefragt ist, zulässt. Kairologische Zeit meint eine Unterbrechung des Gewohnten, des als selbstverständlich hingenommenen. Kairos ist der Verweis auf das sich ankündigende Neue, es ist der Moment des Übergangs, des langsamen Abschieds vom Bestehenden und der Utopie eines gelingenden Lebens ein Stück weit näher zu kommen. Es geht also um etwas Grundsätzliches, und zwar die Frage danach, ob wir es angesichts der drohenden kollektiven Krise schaffen, das Steuer umzudrehen, überall dort wo es notwendig ist. „Dem Rad in die Speichen zu fallen“, so wie es der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der vor genau 75 Jahren, am 9. April, hingerichtet wurde, den entschiedenen Einsatz gegen das NS-Regime auf den Punkt brachte. Es geht darum, Rahmenbedingungen, die nicht lebensfreundlich sind, durch entsprechende politische Entscheidungen zu ändern. Ansonsten wird ein Teil der Weltbevölkerung nicht dem Virus selbst zum Opfer fallen, sondern den fatalen sozialen und ökonomischen Folgen der Krise.
Der ethische Imperativ zu handeln
Deshalb darf die Bekämpfung der Krise nicht auf ihren medizinischen Aspekt reduziert werden, sondern sie ist eng verbunden mit der sozialen und ökologischen Krise zu begreifen. In Lateinamerika und dem südlichen Afrika, den Weltregionen, in denen die soziale Schere am stärksten auseinanderklafft, können sich Situationen politischer Instabilität und sozialer Unruhen ergeben, wenn nicht sofort nach anderen nationalen Lösungen gesucht wird als zuvorderst durch den Einsatz von Kontroll- und Sicherheitskräften. Darüber hinaus bedarf es mehr denn je internationaler Kooperation und Solidarität. Sich momentan abzeichnende Abschottungstendenzen und die aufkeimenden Nationalismen, vor allem seitens der Staaten, die in der Lage sind, Hilfe zu leisten, könnten damit eine humanitäre Katastrophe hervorrufen. In diesem Sinne wird ein epidemiologisches Problem zu einer moralischen Pflicht, einem ethischen Imperativ, der zum sofortigen Handeln aufruft. Denn „wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen,” so der Philosoph Arthur Schopenhauer Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Verantwortung für konkretes Handeln im Jetzt lässt sich nicht abschieben auf Politikerinnen und Politiker und (inter-)nationale Institutionen, sondern jede und jeder Einzelne ist zum solidarischen Handeln eingeladen und gefragt.
Die Sorge füreinander
Die Coronakrise hat uns auch auf uns selbst zurückgeworfen und vielleicht mehr denn je können wir feststellen, dass unsere (Mit-)Menschlichkeit darin besteht, in Beziehung zu leben, woraus sich ein großes Netz der Verbundenheit aller mit allem ergibt. Und so steht die Sorge um unsere Gesundheit in einem engen Zusammenhang mit der Sorge um gutes, würdiges Leben für die Menschen in allen Regionen der Welt. Das ist ein weiterer Aspekt, der in dieser Krise zentral ist: die Sorge füreinander in den Mittelpunkt zu stellen. In dieser Zeit wird deutlich, wie zentral die Sorge- und Pflegearbeiten für unsere Gesellschaft sind, aber zugleich zu denjenigen Arbeiten gehören, die wenig wertgeschätzt werden, was sich unter anderem in schlechter oder fehlender Bezahlung sowie in einer ungleichen Verteilung dieser Arbeiten entlang geschlechter- und herkunftsbedingter Differenzen ausdrückt. Es geht nicht nur darum, diese so zentrale Aufgabe besser zu entlohnen, sondern als eine wesentliche Dimension gemeinsamen und gemeinschaftlichen Lebens zu begreifen, für die wir alle mitverantwortlich sind. Uns bewusst zu sein, dass all unser Tun und Handeln Konsequenzen hat für uns nahe, aber – oder gerade auch – ferne Menschen sowie die Schöpfung insgesamt.
Auferstehung ist Hoffnung
Es liegt unter anderem an uns, die Kehrtwende, die uns sowohl die weltweite Pandemie ebenso wie die Klimakrise vor Augen führen, einzufordern und daran mitzuwirken. Nehmen wir wahr und hören wir auf den Schrei derjenigen, die am meisten unter den direkten Auswirkungen der Krise leiden. Aus der Erfahrung mit dem Karfreitag, den unzählige Menschen jetzt erleben, kann Hoffnung auf Auferstehung glaubhaft verkündet werden. Auferstehung für die Betroffenen ist eine Hoffnung und eine Forderung, die sich aus der Auferstehung Jesu ergibt. So sollen uns diese Tage, in denen die Kirchen leer bleiben werden, ermutigen, kleine Gemeinschaften der Solidarität zu bilden, die ihre Kraft aus der Gegenseitigkeit und erlösenden Verbundenheit im leidenschaftlichen Einsatz für Gerechtigkeit schöpfen. Wir suchen den Auferstandenen nicht bei den Toten, sondern im dynamischen Beziehungsnetz des Lebens. In diesem Sinne kann die österliche Erfahrung von Auferstehung auch in der Krise sicht- und erlebbar werden.