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Corona- und Schuldenkrise: Die Zeit zum Handeln ist jetzt!

„Die wollen doch alle das Gleiche: Schuldenerlass für die ärmsten Länder!“. Besser als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hätte man die Forderungen von über 35.000 Entschuldungsaktivistinnen und -aktivisten am 19. Juni 1999 anlässlich des G8-Gipfel in Köln nicht zusammenfassen können. Die breit getragene Schuldenerlassforderung unterschied sich damals kaum von der Politik der rot-grünen Bundesregierung. Die G8 beschlossen damals die Ausweitung und Beschleunigung der Entschuldungsinitiative für hoch verschuldete Staaten (Heavily Indebted Poor Countries Initiative, kurz HIPC-Initiative).

Proteste während des Kölner Schuldengipfels im Jahr 1999. © erlassjahr.de

20 Jahre später und mitten in einer dramatischen Gesundheits- und Wirtschaftskrise ist die Forderung nach einem „Erlassjahr 2020“ aktueller denn je. Über 200 Organisationen haben sich einem, auch von den kirchlichen Werken Brot für die Welt und MISEREOR getragenen, weltweiten Positionspapier angeschlossen, das von den Gläubigerregierungen die Streichung aller im Jahr 2020 fälligen Schuldendienstzahlungen sowie eine langfristige Lösung der Schuldenkrise fordert.

Denn die Corona-Pandemie hat die Weltwirtschaft in einer kritischen Phase getroffen. In vielen Ländern des Globalen Südens hatte sich die gesamtwirtschaftliche Lage bereits vor Ausbruch des Virus dramatisch verschlechtert. Ein Teufelskreis von wachsender Verschuldung und immer restriktiveren Sparpolitiken bedroht die sozio-ökonomische Entwicklung vieler besonders armer Staaten. Der Schuldenreport 2020 macht das Ausmaß der globalen Schuldenkrise bereits vor der aktuellen Verschärfung der Situation deutlich: Insgesamt sind 124 on 154 untersuchten Ländern kritisch verschuldet. Öffentliche und private Schulden der Entwicklungs- und Schwellenländer summierten sich auf 7,81 Billionen US-Dollar. Zusammen mit den Schulden weiterer Staaten sind sie damit heute fast doppelt so hoch wie auf dem Höhepunkt der letzten globalen Finanzkrise 2009 und mehr als viermal so hoch wie im Jahr 1999.

Den Auswirkungen der gegenwärtigen Corona-Pandemie haben diese Länder – ebenso wie den übrigens denen der durch den Klimawandel ausgelöste Naturkatastrophen wie Dürren oder Wirbelstürmen – schon jetzt kaum etwas entgegenzusetzen. Die Corona-Krise bedeutet daher eine humanitäre Krise von einem bislang unbekannten Ausmaß. Selbst Länder mit besser organisierten Gesundheitssystemen sind überfordert. Aber es reift auch die Erkenntnis: Wir sitzen doch nicht alle im gleichen Boot.

© erlassjahr.de

Denn viele Menschen im Globalen Süden bringt die jetzige Situation in existenzielle Nöte, viele werden nicht durch, sondern wegen der Auswirkungen des Coronavirus sterben, sei es weil sie keinen Zugang zur notwendigen Gesundheitsversorgung haben, weil es kein sauberes Wasser zum Händewaschen gibt, sie auf engsten Räumen in Favelas oder Slums leben oder jeden Morgen in überfüllten Bussen aus den Armenvierteln in die Stadtteile der Wohlhabenden fahren, um dort zu arbeiten. Die Rückmeldungen unserer Partnerorganisationen sind dramatisch und machen uns Sorge.

Viele gute Vorschläge zur Hilfe für betroffene Staaten

Die Forderung nach einer dauerhaften Streichung des fälligen Schuldendienstes ist der schnellste Weg, um bereits in den Haushalten der betroffenen Länder vorhandenen öffentlichen Mittel umgehend für die Bekämpfung dieser beispiellosen Krise frei zu machen und somit möglichst rasch Leben zu retten. Und Schuldenmoratorien oder Schuldenerlasse werden inzwischen weltweit gefordert.

Kardinal Luis Antonio Tagle, der neue Präfekt der vatikanischen Missionskongregation, hat in einer Heiligen Messe inmitten der Corona-Pandemie ein „Jubeljahr“ angeregt, in dem reiche Länder hochverschuldeten Krisenländern die Zinsen ihrer Schulden erlassen sollen. Damit weckt Tagle Erinnerungen an die letzte internationale Entschuldungsinitiative „Erlassjahr 2000“ von vor gut zwanzig Jahren.

Ähnlich Forderungen erheben aber auch Regierungen und internationale Akteuren, denen man dies kürzlich noch nicht zugetraut hätte. Überraschend sprachen sich die Spitzen von Internationalem Währungsfond und Weltbank Ende März für Schuldenerleichterungen für ärmere Länder aus, die besonders von der Corona-Krise betroffen sind. Diese könnten über 25 Milliarden US$ alleine in 2020 in armen Ländern freisetzen. IWF und Weltbank machen allerdings Politik mit dem Geld Anderer, denn im Detail schlagen die mächtigen Finanzinstitutionen ein Schuldenmoratorium der bilateralen staatlichen Gläubiger, vor allem der G20-Mitglieder, gegenüber Regierung hochverschuldeten Entwicklungsländern vor. Auch Bundesentwicklungsminister Gerd Müller hat diesen Vorschlag aufgegriffen und sich am 29. März eher unspezifisch für Schuldenerlasse für ärmere Länder ausgesprochen. Seitdem herrscht seitens der Bundesregierung Funkstille. Der Vorstoß Müllers war offensichtlich mit anderen Ressorts nicht abgestimmt, entsprechend groß scheinen die Widerstände, vor allem aus dem Bundesfinanzministerium. Trotzdem ist allein so Bewegung in eine seit Jahren festgefahrene Patt-Situation zwischen Gläubiger- und Schuldnerregierungen gekommen, von der zivilgesellschaftliche Organisationen noch vor Wochen nicht zu träumen wagten.

Auch Joseph Stieglitz, Grand-Seigneur der globalisierungskritischen Bewegung, warnte vor einer sich dramatisch verschärfenden Verschuldungskrise im Globalen Süden. Diese könnte viele Staaten in die Zahlungsunfähigkeit treiben, wenn nicht nach der Überwindung der unmittelbaren Krise die internationale Gemeinschaft die Arbeit an einem umfassenden und rechtsverbindlichen Staateninsolvenzverfahren unter dem Dach der Vereinten Nationen aufnehmen würde.

Vorschläge mit begrenzter Reichweite

Die derzeit diskutierten Lösungsvorschläge unterscheiden sich je nach ihrer Reichweite und dem Ambitionsniveau:

  1. Ein Schuldenmoratorium ist kein Schuldenerlass, bedeutet es doch nur die zeitweilige Aussetzung der Rückzahlung von Zinsen und Tilgungen. Als Reaktion auf eine unverschuldete wirtschaftliche Notlage wie jetzt in der Corona-Krise wäre nur ein unverzinstes Moratorium angemessen, soll der Gläubiger an der Notlage nicht noch Geld verdienen. Strittig ist zudem, wie vielen Ländern ein solcher Zahlungsaufschub angeboten werden soll und damit, wie hoch die Entschuldung wirklich ausfällt.
  2. Um den Regierungen in der Krise dringend benötigte Handlungsspielräume zur Finanzierung des Gesundheitssektors und anderer sozialer Grunddienste zu verschaffen, ist die Kopplung eines Moratoriums an eine mittelfristige Umschuldung sinnvoll. Hier setzt die Forderung für ein Erlassjahr 2020 an bilaterale und multilaterale Gläubiger wie IWF und Weltbank an. Der IWF hat mit dem Catastrophe Containment and Relief Trust (CCRT) einen faktischen Schuldenerlass eigener Forderungen beschlossen, der in 2020 geschätzte Schuldenerleichterungen in Höhe von 277 Mill. US-Dollar bedeuten könnte.
  3. Mittelfristig benötigen wir eine umfassende Lösung der Schuldenkrise durch die Schaffung eines Staateninsolvenzverfahren. Denn viele Länder werden aus eigener Kraft nicht mehr aus dem Teufelskreis aus Krisen und immer höher wachsenden Schuldenbergen herauskommen. Nur dadurch kann die weitere Verschleppung der Schuldenkrise wirksam beendet werden.

Angesichts der weltumspannenden und dramatischen Auswirkungen der Corona-Krise ist auch die Diskussion um Schuldenerlasse so dynamisch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die Bundesregierung hat versprochen, bis zu der am 14. April in Washington beginnenden Frühjahrstagung von IWF und Weltbank ein Hilfspaket zu schnüren, das auch Schuldenerlasse umfassen soll. Es wird sich zeigen, ob man wie 1999 ein engagiertes und ambitioniertes Signal globaler Solidarität senden wird. Ein Wort dazu aus dem Mund der amtierenden Bundeskanzlerin wäre – wie vor 20 Jahren – angemessen.

Angesichts der Bedrohung armer Länder durch die COVID19-Pandemie fordern Entschuldungsinitiativen weltweit in einem dramatischen Video-Appell von der Politik die Streichung aller in 2020 und 2021 fälligen Schuldendienstzahlungen sowie ein faires und transparentes Entschuldungsverfahren.


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Schuldenreport 2020

124 sogenannte Entwicklungs- und Schwellenländer sind kritisch verschuldet, 19 Länder mussten ihre Schuldenrückzahlungen aktuell ganz oder zumindest teilweise einstellen. Der Klimawandel verstärkt zudem die Schuldenkrise: Naturkatastrophen belasten die betroffenen Staaten zusätzlich und zwingen diese Länder zu weiteren Kreditaufnahmen – ein Teufelskreis. Jetzt lesen

Geschrieben von:

Ansprechpartner Portrait

Dr. Klaus Schilder Experte für Entwicklungsfinanzierung und Tiefseebergbau bei Misereor.

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