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Papua-Neuguinea: Der lange Weg zum Frieden

Die Region Bougainville könnte in naher Zukunft der jüngste Staat der Erde werden. Nach einem langen Bürgerkrieg soll der Prozess der Abspaltung von Papua-Neuguinea jetzt friedlich verlaufen. Wichtigstes Mittel dazu ist der Dialog.

© Eduardo Soteras | MISEREOR

Von weitem wirkt Panguna Town wie eine Geisterstadt. Zwischen von Dschungel bewachsenen Bergen ragen rostige Stahlgerüste in die Höhe, dahinter ausgekernte Betonburgen, in denen vor mehr als 30 Jahren einmal rund 15.000 Menschen gewohnt haben. Überwucherte Reste von Industriefahrzeugen und ein verfallenes Schwimmbad erzählen vom ehemaligen Wohlstand des Ortes. Der Morgennebel hat sich gerade gelichtet, ein alter Mann kehrt vor einer der ehemaligen Wohnburgen, der noch feuchte Rasen ist gemäht. Erst aus der Nähe ist zu erkennen, dass die Gebäude noch bewohnt sind: In den Bauruinen hängen bunte Tücher, Hosen und T-Shirts auf langen Wäscheleinen, in einer mit Wellblech und Bambusmatten verbarrikadierten Wohnung im ersten Stock dampft ein Kochtopf auf einem Holzfeuer. Die Szenerie erinnert an einen postapokalyptischen Hollywoodfilm.

Bis in die 80er Jahre war die 700 Meter tiefe Panguna-Mine der größte Kupfer- und Goldtagebau der Welt.  © Eduardo Soteras | MISEREOR

Tatsächlich haben viele der Bewohner hier ihre ganz persönliche Apokalypse erlebt. Die Ursache dafür liegt in Sichtweite: die zwei Kilometer breite und 700 Meter tiefe Panguna-Mine. Bis in die 80er Jahre war Panguna der größte Kupfer- und Goldtagebau der Welt und bestimmte das Leben in Bougainville – einer Insel im Südpazifik, etwa so groß wie Zypern, die bis 1914 deutsche, danach australische Kolonie war. Gemeinsam mit der Nachbarinsel Buka und rund drei Dutzend kleineren Atollen gehört die Region Bougainville seit 1975 zu Papua-Neuguinea. Der Bergbau brachte wirtschaftliche Entwicklung und politischen Einfluss, aber auch große soziale Ungerechtigkeiten und eine fast unvorstellbare Umweltzerstörung. Als die traditionellen Landbesitzer und heimische Minenarbeiter gegen die Ausbeutung rebellierten, brach 1989 ein Bürgerkrieg aus, der fast ein Jahrzehnt dauerte und schätzungsweise 20.000 Menschenleben forderte. Anfangs richtete sich die Rebellion gegen die australischen Minenbetreiber und die Regierung von Papua-Neuguinea, die 40 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts über die Mine generierte. Im Zuge einer totalen Militärblockade zersplitterten die Guerillakämpfer jedoch bald in ethnische Fraktionen, die sich gegenseitig ausplünderten, vergewaltigten und ermordeten.

© Eduardo Soteras | MISEREOR

„Wir sind eigentlich ein friedliches Volk“, sagt ausgerechnet der selbst ernannte „General Commander“ der „Meekamui Defence Force“, der größten militanten Splittergruppe der einstigen Bougainville Revolutionary Army (BRA), die seit 1989 für die Unabhängigkeit von Papua-Neuguinea kämpfte.

© Eduardo Soteras | MISEREOR

Moses Pipiro ist ein athletisch gebauter Mann mit kahl geschorenem Kopf, dem man seine Jahre als Guerillakämpfer anmerkt. Der 58-Jährige zuckt ständig mit dem Hals, während er von seinem Heimatort „im heiligen Land da oben“ erzählt, der wie ein halbes Dutzend anderer Dörfer dem Panguna Tagebau weichen musste. Heute wohnt er mit seiner mehr als 20-köpfigen Großfamilie in einem der besser erhaltenen Wohnblocks von Panguna Town. Trotz allem glaubt er, dass die Zukunft der Insel im Bergbau liegt – wenn die Konditionen für die traditionellen Landbesitzer „stimmten“. Momentan leben die meisten Bewohner hier von dem bisschen Gold, das sie mit hochgiftigem Quecksilber aus dem Abraum lösen, den die mit Schwermetall verseuchten Flüsse aus der stillgelegten Mine viele Kilometer weit bis zur Küste hinunterschwemmen.

„In der Tat hat Pipiro – gemeinsam mit Anführern anderer Gruppierungen – einen wichtigen Teil zum Friedensprozess in Bougainville beigetragen“, sagt Volker Böge, Co-Direktor des Peace and Conflict Studies Institutes Australia (PaCSIA), das von MISEREOR unterstützt wird.

© Eduardo Soteras | MISEREOR

Dass sich ehemalige Kämpfer wie Pipiro überhaupt aus den dschungelbewachsenen Bergen wieder in die Städte gewagt haben, bedurfte vieler Jahre und traditioneller Rituale. Doch Anfang 2019 versöhnte sich der Rebellenführer mit der offiziellen Regierung von Bougainville und rief seine Anhänger auf, ihre Waffen abzugeben. „Das war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die knapp 300.000 Einwohner von Bougainville am 23. November 2019 ein – auch nach internationalen Standards – vorbildlich friedliches und faires Referendum abhalten konnten, bei dem überwältigende 97,7 Prozent für die Unabhängigkeit gestimmt haben“, erklärt Böge.

Der deutsche Historiker ist seit 20 Jahren auf der Insel aktiv und hat eine ganze Reihe von Dialogen zwischen den unterschiedlichen Konfliktparteien initiiert, die zu einem wichtigen Teil des Friedensprozesses in Bougainville geworden sind. „Diese Art des Zusammenkommens wird hier seit Jahrhunderten so praktiziert und kam daher gut an“, berichtet Serge Loode, ebenfalls Co-Direktor von PaCSIA. „Die traditionellen Kommunen mussten erst wieder lernen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen und eine gemeinsame Zukunftsstrategie zu entwickeln. Dazu waren viele Versöhnungszeremonien nötig.“ Es folgten Dialogreihen zur Vorbereitung des Referendums und aktuell für die Übergangsperiode bis zur Unabhängigkeit, die Mediatoren aus der ganzen Region einbeziehen. Ob und wann Bougainville zur jüngsten Nation der Welt werden kann, hängt jedoch nach dem – nicht verpflichtenden – Unabhängigkeitsvotum von der Nationalregierung Papua-Neuguineas ab.

Die Regierung der umstrittenen Region, die seit dem Friedensvertrag von 2001 autonomen Status hat, sitzt heute auf der Insel Buka, gleich nördlich der Hauptinsel Bougainville. Die alte Hauptstadt Arawa wurde im Krieg stark zerstört. Die einzige Verbindung über die nur etwa 40 Meter breite Buka-Passage bieten kleine Holzboote mit Außenbordmotor, die ständig Passagiere samt Einkaufs- oder Schultaschen, Holzbündeln oder Hühnern über die starke Strömung hin- und hertransportieren. Buka Downtown besteht aus genau einer Hauptstraße mit einer Bank, einer Post, einer Polizeistation und einer Handvoll einstöckiger Läden. Neben der Bootsanlegestelle befindet sich ein kleiner Markt, auf dem Frauen Früchte, Fisch und Betelnüsse verkaufen – ein traditionelles Aufputschmittel, das hier fast jeder kaut.

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Von einem der wenigen Restaurants beobachtet Marcelline Kokiai, wie ein Schiff Hunderte rostige Tonnen mit Diesel anliefert. In den letzten Tagen war der Treibstoff so knapp, dass die Generatoren nur noch stundenweise liefen. „Wir müssen wieder lernen, für uns selbst zu sorgen“, sagt die 61-Jährige, die erst vor wenigen Wochen zur Ministerin für Gemeindeentwicklung ernannt wurde. Sie ist überzeugt, dass der Schlüssel für Bougainvilles Selbstständigkeit im organischen Anbau von Kakao und Kokosnüssen liege, später vielleicht auch in ökologischem Tourismus – auf keinen Fall aber im Bergbau, der schon so viel Leben zerstört habe. „Unser Herz schlägt für unser Land. Es umzugraben, ist eine gute Therapie: Wenn die Erde all unsere Wut und Angst absorbiert, wird diese Energie die Pflanzen wachsen lassen. So könnten wir die Leute beschäftigen und zugleich Trauma-Bewältigung betreiben und Geld generieren.“

Kokiai weiß, wovon sie spricht. Die kleine, kräftige Frau trägt lange schwarze Hosen und ein knallig geblümtes TShirt, in ihren kurzen Kraushaaren zeigt sich noch kein Grau. Doch ihre Hände und Füße erzählen von einem Leben, in dem sie hart anpacken musste. Als „die Krise“ – wie der Bürgerkrieg hier allgemein bezeichnet wird – begann, musste die frühere Apothekenhelferin aus ihrem Heimatort an der Küste fliehen und sich mit ihren neun Kindern jahrelang im Dschungel durchschlagen. Wie die meisten Inselbewohner überlebte sie nur, weil sie lernte, Essen und Medizin selbst anzupflanzen. Noch heute kommen ihr die Tränen, wenn sie vom Elend und der Gewalt berichtet, die ihre Familie erfahren hat. „Hier sind viele immer noch sehr traumatisiert und brauchen Hilfe“, sagt sie. Kokiai war eine der ersten Aktivistinnen, die zunächst andere Frauen und dann ganze Gemeinden organisierte, um einen Friedensprozess in Gang zu setzen. 1994 schrieb sie einen Brief über die Menschenrechtsverbrechen in Bougainville, der es mit Hilfe eines australischen Reporters durch die Blockade und bis zum Parlament in Canberra schaffte – und so internationales Gehör fand.

Starke und energische Frauen wie Marcelline Kokiai (rechts) haben den Frieden in ihrer Heimat durchgesetzt. © Eduardo Soteras | MISEREOR

Letztendlich waren es Frauen wie Marcelline Kokiai, die den Frieden in ihrer Heimat durchsetzten. Es sind starke und energische Frauen, die dank eines matrilinearen Erbrechts als Landbesitzerinnen auch großen Einfluss haben. Allerdings bleibt ihr Platz in der streng christlichen Gesellschaft meist dennoch zu Hause – fast alle entscheidenden Positionen sind mit Männern besetzt. Auch bei der für Juni angesetzten Präsidentschaftswahl werden unter fast 20 Bewerbern voraussichtlich nur zwei Frauen antreten, die wenig Chancen haben dürften.

© Eduardo Soteras | MISEREOR

Gute Aussichten auf einen Wahlsieg rechnet sich dagegen James Tanis aus. Der ehemalige BRA-Kämpfer war bereits einmal Präsident von Bougainville, bevor er 2010 gegen den amtierenden John Momis verlor. In den vergangenen zehn Jahren konzentrierte er sich darauf, die Friedensvereinbarungen mit Papua-Neuguinea umzusetzen. Insbesondere die intensive Vorbereitung der Bevölkerung auf das Unabhängigkeitsreferendum ist mit sein Verdienst – wobei er eng mit den Mediatoren von PaCSIA zusammengearbeitet hat. „Wir haben hier unser eigenes Tempo – wir mussten den Menschen erst Zeit zur Heilung geben“, sagt Tanis mit bedächtiger, aber eindringlicher Stimme. „Wir müssen alles neu aushandeln: unsere Beziehungen untereinander, unsere Beziehung zu Papua Neuguinea und unsere Beziehungen zu internationalen Partnern. Die von PaCSIA initiierten Dialoge sind dabei zu einem Modell für konstruktives Engagement geworden, das uns hilft, den künftigen politischen Status von Bougainville vorzubereiten“, so der Sonderbeauftragte für die Implementierung des Friedensabkommens.

Heute hat der 55-Jährige das Hemd und die geschlossenen Schuhe ausgezogen, die er in Buka sonst trägt. Stattdessen hat er kurze Sporthosen und ein verwaschenes Polohemd an, unter dem sich sein Bauch wölbt: „Über die Berge könnte ich heute wohl nicht mehr klettern“, lacht der ehemalige Guerillakämpfer über sich selbst. Doch legt er Wert darauf, barfuß zu einer Versöhnungszeremonie in seinem Heimatkreis zu erscheinen: Bolave liegt in den bis zu 2.000 Meter hohen Bergen hinter Panguna und ist nur über holperige Wege zu erreichen, die teils durch reißende Flüsse führen.

© Eduardo Soteras | MISEREOR

Eingeladen hat Pastor Dennis Lokonai, amtierender Gesundheitsminister von Bougainville, ein alter Schulfreund von Tanis. Rund hundert Männer haben sich im halboffenen Holzbau der Simalaka Gospel Church versammelt, etwas später setzt sich eine kleine Gruppe Frauen in die vorderen Reihen. Viele sind stundenlang zu Fuß hergewandert, die meisten tragen keine Schuhe. Fast drei Stunden lang werden Reden gehalten, meist in der Landessprache Tok Pisin, teils auch in einer der Lokalsprachen, von denen es allein in Bougainville rund 30 gibt. Es geht um Versöhnung zwischen den Clans und – das ist ungewöhnlich – auch um die Verdienste der ehemaligen Kämpfer. Immer wieder klatschen die Zuhörer rhythmisch in die Hände: Mit dem sogenannten Bougainville Clap zeigen sie ihre besondere Anerkennung. James Tanis nutzt die Gelegenheit, um seine Präsidentschaftskandidatur anzukündigen und wirbt zugleich um Verständnis, dass die Übergangphase vom Referendum bis zur Unabhängigkeit einige Jahre dauern dürfte. Den Bergbau erwähnt er – im Gegensatz zu anderen Rednern – nicht: Das Thema sei zu sensitiv, sagt er später, zu unterschiedlich die Interessen der diversen Gruppierungen, von denen einige bereits von ausländischen Investoren umworben werden. Nach Ende der Veranstaltung überwältigt den sechsfachen Vater doch noch die Rührung: „Zum ersten Mal hat sich ein Mitglied der Regierung bei uns Ex-Kämpfern bedankt“, sagt er mit Tränen in den Augen. „Das wichtigste ist der Friedensprozess, um unser Volk wieder zu vereinen. Dann werden wir fähig sein, Bougainville als eigene Nation zu führen“, ist Tanis überzeugt.

Klar brauche man wirtschaftliche Hilfe – er hoffe auf Deutschland, das einst die ersten Kirchen, Schulen und auch den Bergbau hergebracht habe. Aber eines sei sicher: „Die Menschen hier sind nicht bereit für einen weiteren Krieg. Wir werden nicht mehr zu den Waffen greifen.“ Dann läuft er den anderen Gästen über einen Trampelpfad hinterher ins Dorf, wo die Frauen ein Festmahl vorbereitet haben: Schwein, Süßkartoffeln und Maniok, mit heißen Steinen im traditionellen Erdofen gegart, dazu Wasserspinat und Kochbananen – alles aus eigenem Anbau.

Über die Autorin: Christina Schott arbeitete für den Stern, bevor sie 2002 nach Südostasien ging und das freie Korrespondentennetzwerk weltreporter.net mitbegründete.

Über den Fotografen: Eduardo Soteras betrachtet die Welt aus vielen Perspektiven. Geboren in Argentinien als Kind libanesischer Migranten, pendelt er heute als Dokumentarfotograf zwischen Lateinamerika, Afrika und dem Nahen Osten. Er verfolgt gerne Themen über Jahre wie den Weg zentralamerikanischer Migranten in die USA oder das Leben von Höhlenbewohnern in Hebron.


Dieser Artikel erschien zuerst im MISEREOR-Magazin „frings.“ Das ganze Magazin können Sie hier kostenfrei bestellen >

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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