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Die Krise als Aufruf zur Solidarität – Gedanken zu Pfingsten

Vor knapp drei Monaten änderte sich innerhalb weniger Tage unser Alltagsleben durch die Corona-Krise. Kontaktsperren und Schutzmaßnahmen, der Rückzug in die eigenen vier Wände, leere Straßen, geschlossene Geschäfte bestimmten unser Leben. Es schien, als würde die Welt durch den Lockdown zum Stillstand kommen. An- und Abstieg von Infektionszahlen, die jeweils neusten Erkenntnisse der Virologen, überall schien nur ein Thema die Medien zu bestimmen. Feuilletons von Tages- und Wochenzeitungen waren gefüllt mit Analysen und Reflexionen über die Bedeutung dieser Krise für die Wirtschaft, die Gesellschaft, das Leben insgesamt.

„Das Gefühl der Empathie, des Mitleidens dürfen wir gerade jetzt nicht verlieren.“
© Klaus Mellenthin

Mehr und mehr wurde man sich weitestgehend einig darin, dass in der Corona-Pandemie andere, zum Teil herausforderndere Krisen und Konflikte wie unter einem Brennglas verstärkt sichtbar wurden. Corona würde möglicherweise eine Zeitenwende, einen notwendigen tiefgreifenden Wandel oder zumindest aber eine grundsätzliche Neujustierung von Wirtschaft und Gesellschaft einläuten, lauteten aufkeimende Hoffnungsbotschaften, an die viele von uns sich gerne klammern würden. Einiges deutete daraufhin, dass vermutlich nichts mehr so wie „vor Corona“ sein würde, auch wenn das kein Automatismus sei.

Umsteuern ist notwendig

Betrachten wir aktuelle Entwicklungen genauer, so scheint die anfängliche Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung „nach Corona“ an Potential zu verlieren. Wenn die Zeit auch mehr als reif für den geforderten Wandel und vielen klar scheint, dass Ökonomie nicht Vorrang vor der Politik haben darf, so zeigen milliardenschwere Rettungspakete für Flug- und wohl auch Automobilbranche ebenso wie die Verhandlungen in Bezug auf die EU-Außenpolitik, wie die Interessen und Lobbyarbeiten gelagert sind. Kranken- und Pflegedienste wurden und werden zwar beklatscht, aber aktuelle Debatten und Investitionen zeigen, welche Sektoren als eigentlich systemrelevant gelten. Werden Befürchtungen eintreffen, dass das Virus weder mittel- noch langfristig unsere Wirtschafts- und Lebensweise unterbrechen konnte, sondern wir eher auf ein leicht moderates „Weiter so wie bisher“ zusteuern? Konkret also, Systeme und Strukturen aufrechterhalten, die – von einem technokratischen Wachstumsparadigma geleitet – weder Mensch noch Mitwelt Priorität geben? Die „Vor-Corona“-Vergangenheit wird entgegen wissenschaftlicher Warnungen, dass ein Umsteuern angesichts der ökologischen Katastrophen dringlich ist, wiederbelebt. Und jene, die ohnehin schon in prekären Bedingungen lebten, könnten anschließend noch etwas schlechter dastehen.

Neue Wurzeln für die Wirtschaft

Das, was in einem gerade veröffentlichten globalen Schreiben mit dem Titel Degrowth: neue Wurzeln für die Wirtschaft 1.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler, Aktivistinnen und Aktivisten fordern, hat Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si’ – Über die Sorge für das gemeinsame Haus (LS) formuliert, deren 5-jähriges Jubiläum wir in diesen Tagen feiern. Darin stellt er die von einem technokratischen westlichen Fortschrittsparadigma angetriebene Wachstumslogik, die die Klimakrise mit verursacht, grundlegend in Frage und plädiert für eine radikale Kehrtwende, um das gemeinsame Haus für alle Menschen lebenswert zu machen und zu erhalten.

Pandemie und Hunger vertreiben Tausende

Während hierzulande Infektionsraten und Krankheitsverläufe hinter den befürchteten Szenarien liegen und bereits erste Lockerungsmaßnahmen eingetreten sind, erreichen uns weiterhin dramatische Bilder und Berichte aus unseren Partnerländern. Wurde in einigen Ländern Lateinamerikas Mitte März auch ein sofortiger Lockdown eingeführt, Ausnahmezustände ausgerufen, die Mobilität innerhalb von Ländern ausgesetzt und Außengrenzen geschlossen, so scheint der erwartete „Erfolg“, die Ausdehnung des Virus damit zu begrenzen, auszubleiben. Trotz Ausgangssperren sind die Straßen alles andere als menschenleer. Menschen kommen zusammen, um sich vor allem in den Elendsvierteln an den Rändern der großen Metropolen in Gemeinschaftsküchen zu organisieren, weil der Hunger groß ist. Die wenigen und unzureichenden staatlichen Hilfeleistungen erreichen nur sehr wenige. Aus Verzweiflung und Überlebensnotwendigkeit „flüchten“ Tausende aus der Misere der großen Städte. In Peru, ein Land welches nach Brasilien hohe Infektionszahlen zu verzeichnen hat, befinden sich nach offiziellen Angaben ca. 167.000 Menschen auf den Landstraßen, um von Lima in ihre Heimatprovinzen zurückzukehren. Sie sind auf der Flucht vor Arbeitslosigkeit, Hunger und dem Coronavirus. Da keine Überlandbusse mehr fahren, laufen sie Hunderte von Kilometern über teilweise gefährliche Strecken durch die Anden, überqueren Flüsse, schlafen auf dem Boden in der Kälte im Freien. Wenn sie Glück und noch etwas Geld haben, nimmt sie einer der noch verkehrenden Lkw mit. Sie stehen für alle diejenigen, die sich gegenwärtig an vielen Orten der Welt auf der Straße befinden, Menschen ohne ein Zuhause, ohne Nahrung, ohne Gemeinschaft und Solidarität – all das erhoffen sie, in ihrer „alten Heimat“ anzutreffen. Die Krise ist für sie nur wenig oder gar keine Chance und schon gar nicht für die Unzähligen, die erneut zu den Verliererinnen und Verlierern gehören und die Grausamkeit einer Globalisierung der Gleichgültigkeit (LS 52) erfahren.

Wir dürfen unsere Empörung über das Unrecht sowie die Forderungen nach Solidarität und Gerechtigkeit nicht in Quarantäne setzen.

Pirmin Spiegel

Empörung über das Unrecht

Auch wenn ein aktueller Blick in die Welt und die politischen Entscheidungen hier wie international wenig zukunftsweisend sein mögen, Angst und Unsicherheit weiterhin unseren Alltag zu bestimmen scheinen, so dürfen wir darüber nicht das Gefühl der Empathie, des Mitleidens verlieren. Und wir dürfen unsere Empörung über das Unrecht sowie die Forderungen nach Solidarität und Gerechtigkeit nicht in Quarantäne setzen. Ganz im Gegenteil! Gerade jetzt ist unsere Solidarität – und damit meine ich nicht (nur) das Aufsetzen von Atemschutzmasken und die Wahrung des Mindestabstands – gefragt.

Wir wissen, dass individuelle und strukturelle Verantwortlichkeiten wahrgenommen und miteinander verbunden werden müssen, um gesellschaftsverändernde Prozesse in die Wege zu leiten. Uns berühren zu lassen vom Leid der Anderen, die Geschichten und Lebenswirklichkeiten der Einzelnen hinter den Zahlen wahrzunehmen und nicht in der Sorge um uns selbst verhaftet zu bleiben, ist ein Schritt zu einer Solidarität, die Visionen nicht aufgibt und Gerechtigkeit schaffen möchte. Gemeinsam ist er wohl leichter zu gehen.

„Möge der gemeinschaftsstiftende Geist von Pfingsten in uns das Gefühl der Verbundenheit und gegenseitigen Angewiesenheit stärken.“ (LS 42)

Grenzüberschreitende Solidarität

Umkehr und prophetische Kritik, zu der wir als Christinnen und Christen aufgefordert sind, wie Franziskus in seiner Enzyklika bekräftigt, heißt dann auch gemäß unseren Traditionen „die Mächtigen vom Thron zu stürzen“ (Lk 1,52). Wie dies gegen das tagtägliche und zu frühe Sterben von Menschen und die Zerstörung des Planeten insgesamt aussehen kann, dafür gibt es weltweit unzählige Beispiele von Menschen und sozialen Bewegungen, die sich „unter Einsatz legitimer Druckmittel“, so Franziskus (LS 38), einsetzen für die Vision eines Guten und – das heißt eben auch – gesunden Lebens.

Möge der gemeinschaftsstiftende Geist von Pfingsten in uns das Gefühl der Verbundenheit und gegenseitigen Angewiesenheit (LS 42) stärken, Bündnisse grenzüberschreitender Solidarität zu schließen um des Lebens willen, für das Gute Leben aller Menschen und der Welt, die uns umgibt.

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Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer bei Misereor. Bevor er 2012 zu Misereor kam, war er 15 Jahre in Brasilien als Pfarrer tätig und bildete in verschiedenen Ländern Lateinamerikas Laienmissionare aus.

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