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Ein Jahr nach der Explosion in Beirut: „Niemand will Verantwortung übernehmen“

Am 4. August 2020 erschütterte eine verheerende Explosion die libanesische Hauptstadt Beirut. Die Wucht der Sprengkraft brachte unfassbares Leid und Zerstörung: über 300.000 Menschen verloren ihr Zuhause, mehr als 6.000 Menschen wurden teilweise schwer verletzt und über 200 Menschen starben. Auch ein Jahr später konnte noch keiner der politischen Entscheidungsträger zur Verantwortung gezogen werden. Ungeklärt bleibt auch, warum 2.750 Tonnen hochexplosives Ammoniumnitrat über 6 Jahre unkontrolliert im Hafen von Beirut gelagert wurden und wie genau es zu dieser Katastrophe kommen konnte.

1 Jahr Explosion Hafen Beirut
Blick auf den zerstörten Getreidesilo im Hafen von Beirut; neben der großen Wut auf die Regierung herrschte nach der Explosion vor einem Jahr auch Hoffnung, dass Beirut wieder aufsteht; diese ist mittlerweile verschwunden. © Karin Uckrow

Große internationale Hilfsbereitschaft

Die nationale und internationale Hilfsbereitschaft und Solidarität mit der betroffenen Bevölkerung in Beirut waren groß. Unzählige ehrenamtliche Helfer*innen aus allen Teilen des Landes waren wochenlang im Einsatz und halfen mit, die Zerstörungen zu beseitigen, die Wohnungen wiederaufzubauen und den Menschen in ihrer Not zur Seite zu stehen. Ich erinnere mich gut an die vielen spontan entstandenen Bürgerinitiativen, die überall inmitten der zerstörten Häuser ihre provisorischen Stände aufbauten und anpackten. Trümmer und Schutt wurden beseitigt, Lebensmittel, Wasser und Hygieneartikel verteilt. Und dann schwirrten Freiwillige und Mitarbeitende von Nichtregierungsorganisationen, der Kirchen und der UN Organisationen aus und sammelten Daten und Informationen, welche Familien was am dringendsten benötigten. Danach begann zügig die Instandsetzung von Wohnungen für die Menschen, die sich den Wiederaufbau nicht leisten konnten.

Das psychische Leiden ist groß

Aber neben der materiellen Hilfe brauchten die Menschen auch ein offenes Ohr. Die Landesdirektorin unserer Partnerorganisation vom Jesuit Refugee Service (JRS) in Heba äußerte bereits kurz nach der Explosion: „Die Betroffenen benötigen oft auch einfach nur jemanden, der ihnen zuhört. Der Schock, die Verzweiflung und die Wut auf unsere Politiker sind unglaublich groß. Die Menschen wollen reden, um das Erlebte zu verarbeiten. “ Psychosoziale Unterstützung leisten viele Organisationen noch immer – der Bedarf ist weiterhin enorm, denn der Libanon kämpft seit knapp zwei Jahren mit verschiedenen Krisen gleichzeitig.

Verantwortliche noch immer „geschäftsführend“ im Amt

Während die Zerstörungen vielerorts beseitigt sind, finden Familien, die Angehörige verloren haben, noch immer keine Ruhe und warten darauf, dass endlich die Politiker zur Verantwortung gezogen werden. Kurz nach der Explosion erklärte die damalige Regierung ihren Rücktritt, ist aber seitdem geschäftsführend im Amt. Der damalige Ermittlungsrichter, der nach der Explosion drei Minister und den Regierungschef der Fahrlässigkeit beschuldigte und zur Vernehmung vorlud, wurde daraufhin abgesetzt. Die Angehörigen der Explosionsopfer haben in den letzten Monaten immer wieder mit den Bildern ihrer getöteten Familienangehörigen vor dem Obersten Gericht in Beirut demonstriert und Aufklärung gefordert. Der neue Chefermittler hat nun in den vergangenen Tagen die Aufhebung der Immunität von hohen Politikern mit dem Verdacht auf fahrlässige Tötung verlangt. Ob das Parlament dieser Forderung zustimmt, ist ungewiss. Einflussreiche Politiker und andere Persönlichkeiten werden im Libanon gewöhnlich nicht für ihre Verbrechen belangt.

Gedenken der Opfer in Beirut 2021
Im Zentrum von Beirut wird der zahlreichen Opfer auf Wandgemälden gedacht. © Karin Uckrow

„Wer kann, verlässt den Libanon“

Bereits vor der Explosion befand sich der Libanon in einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise. Der Staat ist bankrott und dringend nötige Reformen werden seit Jahren verschleppt. Der Wert des libanesischen Pfunds hat inzwischen 90 % an Wert verloren. Mittlerweile lebt mehr als die Hälfte der libanesischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Unglaublich viele syrische und libanesische Familien ernähren sich von dem, was im Müll zu finden ist. Für viele Menschen hat die Explosion vor einem Jahr die letzte Hoffnung auf Veränderungen im Land endgültig zerstört. Ich höre von vielen Seiten: „Wer kann, verlässt das Land – wir haben hier im Libanon keine Zukunft“. Die gut ausgebildete libanesische Bevölkerung wandert legal ab. Andere, deren Geld weder zum Überleben noch zur Ausreise reicht, versuchen, aus schierer Verzweiflung mit einem Boot vom Nordlibanon aus illegal nach Zypern überzusetzen.


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Karin Uckrow leitet die Dialog- und Verbindungsstelle Libanon/Naher Osten von Misereor.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Avatar-Foto

    Hallo Fr Uckrow,
    ich bin ein Arzt kurz vor dem Ruhestand und wollte mal fragen, ob Bedarf an Unterstützung im Libanon besteht.
    Ich war selber fast 20 Jahre lang mit MISEREOR und Malteser in Afrika und habe viele Jahre Projekterfahrung.
    MfG und alles Gute für Ihre Arbeit.
    A Diefenhardt

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