Unsere Expertin schätzt die aktuelle Lage in Afghanistan ein und fordert: Keine Abschiebungen in das gefährlichste Land der Welt! Ob Bildungsprojekte für Frauen weiter möglich sein werden ist ungewiss.
Ein Beitrag von Misereor-Regionalreferentin Anna Dirksmeier
Die internationalen Truppen ziehen seit Mai ab. Die Bundeswehr ist bereits vollständig zurück in Deutschland, weil sie ohne den Schutz der USA nicht in Afghanistan bleiben konnte. Zwanzig Jahre lang haben sie versucht, eine stabile Demokratie aufzubauen. Doch diese ist mehr als fragil. Die Regierung in Kabul ist schwach, zerstritten und in weiten Teilen korrupt. Auch gelang es nicht, die radikalislamischen Taliban zu besiegen. Friedensgespräche verliefen im Sande. Das lag auch daran, dass es die US-Amerikaner so eilig hatten. Ihr fast fluchtartiger Abzug spielte den Taliban in die Hände. Nennenswerte Zugeständnisse hatten die US-amerikanischen Diplomaten von ihnen nicht gefordert. Nicht einmal die Waffen ruhen. Im Gegenteil: Seit Mai eskaliert die Gewalt.
270.000 Menschen sind seit Jahresbeginn vor dem Krieg und den Taliban geflohen.
Laut UN gab es im ersten Halbjahr dieses Jahres 5.200 Getötete und Verletzte – ein Anstieg um 47 % gegenüber 2020! Täglich überqueren Hunderte die Grenzen zu den Nachbarländern. Nicht eine der gut dreißig Provinzen ist sicher. Die Hälfte ist bereits in Hand der Taliban (Quelle: Afghanistan Analyst Network). Aktuell stürmen sie die Provinzstädte. Sie haben so gut wie alle Grenzregionen eingenommen und kontrollieren die meisten großen Verbindungsstraßen und damit den Handel. Der Regierung entgehen somit wichtige Steuereinnahmen und Zölle.
Die Bundeswehr hatte die afghanische Armee ausgebildet, aber sie ist allein nicht in der Lage, die Taliban zu besiegen. Politische Beobachter*innen gehen davon aus, dass die Taliban bereits gegen Ende dieses Jahres das Land kontrollieren und ein Kalifat errichten könnten. Sie testieren den amerikanischen Diplomaten eine politisch-militärische Fehleinschätzung. Den Bürgerkrieg hat die internationale Staatengemeinschaft mitzuverantworten, allen voran die US-amerikanische Führung mit dem Truppenabzug um jeden Preis.
Die humanitäre Situation ist katastrophal
Bombardierungen und Attentate lassen nicht nach und zwingen viele Menschen zur Flucht. Afghanistan muss bereits gut eine Million Binnenflüchtlinge verkraften. Es sind Familien, die vor den Kämpfen in ihrer Region fliehen. Aber auch Hunderttausende Afghanen, die in den letzten Jahren ihre Jobs in Nachbarstaaten, vor allem im Iran, verloren und ohne Arbeitsmöglichkeiten in ihrer Heimat zurückkehren mussten.
Fast 90 Prozent der Afghaninnen sind sehr arm, 30 Prozent sind laut dem neuesten UN-Welthungerindex akut unterernährt. Mindestens 15 Millionen Menschen sind dringend auf Nothilfe angewiesen. Die medizinische Versorgung ist kollabiert. Die dritte Corona-Welle ist im Gange, die beiden dafür ausgerüsteten Krankenhäuser sind wegen Überfüllung geschlossen. Nur ein Prozent der Bevölkerung ist geimpft, es gibt zurzeit keinen weiteren Impfstoff. Dürren vernichten Ernten und schwächen das Land zusätzlich. Versorgungsengpässe entstehen und dringend benötigte Vorsorge-Rücklagen für den früh einsetzenden Winter können nicht gebildet werden.
Abschiebungen von Geflüchteten aus Deutschland nach Afghanistan
MISEREOR kritisiert die jüngsten Abschiebungen nach Afghanistan scharf und appelliert an die deutsche Regierung, der Bitte aus Kabul nach deren vorübergehender Aussetzung nachzukommen.
Afghanistan gilt als das derzeit gefährlichste Land der Welt (Quelle; Global Peace Index). Daher wären weitere Abschiebungen verantwortungslos. Die extrem verschlechterten humanitären Bedingungen in Afghanistan müssten nach dem geltenden deutschen Aufenthaltsgesetz zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 führen. Daher sind Klagen gegen Abschiebungsbescheide oft erfolgreich.
Das Auswärtige Amt spricht dringende Reisewarnungen aus.
Die großen Geber-Institutionen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit lassen aus Sicherheitsgründen ihr deutsches Personal von Dubai aus operieren oder haben es bereits nach Deutschland ausgeflogen.
Während Entwicklungs- und Außenministerium also die Sorge um die schlimme Situation teilen, werden Abschiebungen vor allem damit gerechtfertigt, es handele sich überwiegend um ehemalige Straftäter (Quelle: Tagesschau). Misereor weist diese Argumentation zurück, nach der Menschenrechte nicht mehr als universell gelten: Die Menschenrechte der abgeschobenen Afghanen, von denen längst nicht alle straffällig geworden und einige in der deutschen Gesellschaft gut integriert waren, sind akut gefährdet. Die Taliban verfolgen sie wegen ihres Aufenthaltes in Deutschland als „Kollaborateure mit dem westlichen Feind“. Deshalb werden die Abgeschobenen häufig nicht von ihren Familien aufgenommen, da diese dann ebenfalls als „westliche Kollaborateure“ um ihr Leben fürchten müssen. Dasselbe Schicksal der Verfolgung mit Todesdrohungen erleiden die ehemaligen afghanischen Hilfskräfte der ausländischen Truppen wie Köche, Fahrer*Innen und Übersetzer*innen (Quelle: FAZ). Für sie muss auch eine schnelle Lösung gefunden werden.
Rund 90 Prozent der Abgeschobenen machten nach einer Studie der Diakonie Hessen Gewalterfahrungen. Sie landen in Perspektivlosigkeit und Verfolgung. Die meisten afghanischen Familien leben bereits am Existenzminimum und können kein weiteres Familienmitglied ernähren. Es bleibt den Abgeschobenen gar nichts anderes übrig, als erneut zu fliehen, weil es keine Überlebensgrundlage für sie gibt und die afghanische Regierung ihre Schutzverantwortung nicht wahrnehmen kann.
Protest gegen Abschiebungen
Die Bundesregierung wird in diesen Tagen ihre Entscheidung über einen zumindest vorübergehenden Abschiebestopp fällen. Bisher sah sie die Sicherheitslage für Afghan*innen – ganz im Widerspruch zum Abzug des eigenen Personals aufgrund massiver Gefährdung – nicht als kritisch an. Es steht zu befürchten, dass sie Afghanistan trotz gegenteiliger Informationslage noch immer für ein in weiten Teilen sicheres Land ausgeben wird, in das Geflüchtete problemlos zurückgeführt werden können. Mit der Duldung von Geflüchteten ist in Deutschland offenbar keine Wahl zu gewinnen. Es müsste hierzulande besser kommuniziert werden, dass die Abgeschobenen Krieg, Elend und Verfolgung erwartet. Nur so können Verständnis und Integration gelingen.
Die jetzige Situation in Afghanistan ist auch vom Westen mitverursacht. Es gelang nicht, die afghanische Regierung so zu stärken, dass sie aus eigener Kraft den Krieg gewinnen und den Radikal-Islamisten funktionierende rechtsstaatliche Strukturen entgegensetzen kann. Deutschland hat deshalb die moralische Verpflichtung, alles zu tun, um das Leid der Zivilbevölkerung zu beenden und zu einem dauerhaften Frieden beizutragen.
Wird die jahrelange Aufbau-Arbeit in Afghanistan zunichte gemacht?
In lokalen Medienberichten heißt es, die Lage verschlimmere sich täglich. Viele Projektpartner von Misereor sind verzweifelt, versuchen aber, ihren Spielraum zu erhalten. Seit 16 Jahren stärkt eine unserer Partnerorganisationen lokale Dorfgemeinschaften durch Bildungsprogramme. Das Vorrücken der Taliban könnte diese Aufbauarbeit zunichte machen. Noch ist nicht klar, welchen Wert die Taliban unabhängiger Bildung außerhalb von Koranschulen beimessen und ob Bildung für Frauen künftig noch möglich sein wird. Die bisherigen Erfahrungen mit den Taliban lassen Schlimmes befürchten. Als sie Ende der 1990er Jahren das Land regierten, wurden Frauen ins Haus verwiesen. Sie durften es nur in Begleitung eines männlichen Erwachsenen und nur aus „wichtigem Grund“ verlassen. Als wichtiger Grund galt Schulbildung nicht. Das war nicht immer so. Bildung hatte traditionell einen hohen Stellenwert.
Wird Bildungsarbeit für Frauen und Mädchen noch möglich sein?
In den letzten zwanzig Jahren sind selbstbewusste Mädchen und Frauen herangewachsen, die sich ihr Recht auf Bildung und andere Menschenrechte nicht nehmen lassen wollen. Gleichzeitig ist die Angst groß. Auch wenn viele Taliban dazugelernt haben und anerkennen, dass uneingeschränkter Zugang zu Bildung und der Respekt von Frauenrechten für den Aufbau des Landes zentral sind, ist fraglich, ob sie sich gegenüber den Hardlinern in ihren Reihen durchsetzen können.
Als die Taliban die ländlichen Regionen um Adkhoi vor wenigen Wochen einnahmen, montierten unsere lokalen Partnerorganisationen Schilder von Bildungseinrichtungen ab, um keine Angriffsfläche zu bieten. Sie loten vorsichtig aus, ob berufliche Bildung für Frauen weiterhin möglich sein wird. Im Vordergrund steht dabei, das Leben der Frauen zu schützen. Als Vorsichtsmaßnahme schloss der Partner zwei Zentren und verlegte die Bildungsarbeit mit kleineren Gruppen in die Häuser der Frauen. Hier, wie auch in einem weiteren Bildungsprojekt, das Misereor in Zentralafghanistan unterstützt, werden die Lehrkräfte darin fortgebildet, den Unterricht online weiterzuführen. Was einst zum Schutz vor Ansteckungen mit dem Coronavirus gedacht war, entpuppt sich angesichts des Bürgerkriegs als sinnvolle Schutzmaßnahme: Unterricht per Video.
Laut UN wurden seit 2009 ca. 111.000 afghanische Zivilistinnen getötet oder verletzt.
Mich stimmt sehr traurig, dass die afghanische Zivilbevölkerung die Zeche zahlen muss. Über sie wird bestimmt, sie hat wenig Rechte und kaum politische Mitwirkungsmöglichkeiten. Unbeteiligte afghanische Zivilistinnen haben die weit meisten Toten in diesem Krieg zu beklagen. Die Überlebenden sind traumatisiert. Viele haben durch die Zerstörungen alles verloren. Sie leiden an Hunger und an vermeidbaren Krankheiten.
Dabei war kein einziger Afghane am Attentat auf das World Trade Center am 11. September 2001 beteiligt, dem Auslöser für den Krieg in Afghanistan. Verantwortlich waren überwiegend saudi-arabische Mitglieder des internationalen Terrornetzwerks Al Quaida, das in Pakistan gegründet worden war. Dennoch wurde aus Vergeltung für 9/11 Krieg in Afghanistan geführt. Angesichts der äußerst ungewissen Zukunft stellt sich die Frage nach dem Sinn des Krieges noch einmal mehr.
Die über 25.000 Jugendlichen, die unsere Partnerorganisationen in guten Zeiten ausgebildet haben, sind voller Hoffnung, dass sie auch in schlechten Zeiten nicht allein gelassen werden. Daher wird sich Misereor nicht aus Afghanistan zurückziehen.
Über die Autorin:
Anna Dirksmeier ist Regionalreferentin für Afghanistan und Pakistan. Sie steht in engem Kontakt mit Partnerinnen und Partnern vor Ort.
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Buchtipp: Nach Afghanistan kommt Gott nur zum Weinen
von Siba Shakib
Siba Shakib ist eine deutsch-persische Filmemacherin und Schriftstellerin. Sie hat ab 2002 die UN Friedenstruppe ISAF in Afghanistan beraten und später die Bundeswehr. Sie hat sich sehr für die Rechte der afghanischen Frauen eingesetzt.
Das Buch beschreibt die schlimme Situation von Frauen, wie sie vor 20 Jahren war. Dadurch wird deutlich, was die Frauen möglicherweise wieder erwartet, wenn die Taliban künftig das Land regieren sollten. Werden die Frauen es schaffen, ihre in den letzten 20 Jahren gewonnenen Freiheiten zu verteidigen?