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Pirmin Spiegel über Geschlechtergerechtigkeit und das Leitwort „Frau.Macht.Veränderung.“

Im Interview erzählt Pirmin Spiegel, welche Bedeutung das Leitwort der Fastenaktion 2023 „Frau. Macht. Veränderung.“ für Misereor sowie die Projektpartner hat und welche Rolle Geschlechtergleichheit für ein kirchliches Werk spielt.


Veröffentlicht im Rahmen der Fastenaktion 2023 „Frau. Macht. Veränderung.“
Lesen Sie auch:
Barbara Schirmel, Referentin für Gendermainstreaming und Diversity bei Misereor, über die Bedeutung des Leitwortes „Frau. Macht. Veränderung.“ für Misereor sowie für die Projektpartner und welche Rolle Geschlechtergleichheit für ein kirchliches Werk spielt. – Misereor-Blog


Leitwort der Misereor-Fastenaktion 2023
Das Leitwort „Frau.Macht.Veränderung.“ begleitet die Misereor-Fastenaktion in der Fastenzeit 2023.

Wie passt das Leitwort der Fastenaktion „Frau. Macht. Veränderung.“ zu einem Bischöflichen Werk wie Misereor?

Der weite Horizont und die Vielschichtigkeit des Titels der Fastenaktion 2023 bilden die Dynamik und Komplexität der Themen gut ab, mit der wir uns als Werk der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit täglich beschäftigen.
Immer wieder sind es Frauen, hier in Deutschland wie weltweit, die im Kleinen und im Großen Veränderungen anstoßen, Veränderungspotentiale wahrnehmen und gesellschaftlich verursachte Veränderungen mittragen: „Frauen machen Veränderung“.
Wir wissen, dass das Nachhaltigkeitsziel 5 „Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen“ global weit entfernt scheint. Zugleich ist es unmittelbar und elementar notwendig, so dass wir tiefgreifend auch den Einfluss von Machtzusammenhängen reflektieren und angehen müssen. Macht braucht Veränderung, wenn droht, dass Ungleichheit und Bevormundung damit einhergehen.

Wie sehen Sie die aktuelle Debatte von Frauen? In der (westlichen) Kirche? Wie positioniert sich Misereor?

Misereor setzt sich weltweit für kirchliche, kirchennahe und zivile Partnerorganisationen ein, deren Ziel es ist, Lebensbedingungen – religions- und geschlechtsunabhängig – zu verbessern und sich für gerechtere Beziehungen und Teilhabe sowie das Aufbrechen jeglicher Art von asymmetrischen Machtverhältnissen – dazu gehören Geschlechterverhältnisse – einzusetzen.

„Gerechte Beziehungen“ – das sind Beziehungen, die nicht vertikal fixiert sind, sondern wechselseitig funktionieren und die gleiche Würde und Teilhabe Aller anerkennen und ermöglichen.

Von der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda N. Adichie lernte ich, sich mit den Gefahren einseitiger Geschichten und Darstellungsweisen auseinanderzusetzen. Es gibt niemals nur eine Geschichte – das wäre eine Verengung der Perspektive auf nur eine von vielen möglichen Geschichten. Stereotype und Klischees über Personen, Gruppen oder Orte entstehen und verfestigen sich so. Deshalb wollen wir im Kontext der Fastenaktion 2023 Geschichten von Frauen erzählen, versuchen hinzuhören (Escucha) und jenseits patriarchaler Rahmen Frauen und ihre Befreiungsgeschichten sichtbar zu machen.

Es gibt zahlreiche Organisationen, die sich für Frauen- und Mädchenrechte und eine Veränderung bestehender Geschlechterrollen einsetzen. Diese werden oftmals von kirchlichen Repräsentant*innen organisiert. Ein Beitrag von Misereor ist es, zu versuchen, Situationen von Frauen, ebenso ihren Widerstand und ihre Selbstorganisierung bekannt zu machen wie in der Blogreihe „Starke Frauen“. Dort werden Frauenbiographien vorgestellt wie beispielsweise die von Patricia Gualinga. Sie macht in ihrem Engagement in Amazonien deutlich, wie Frauen- und Umweltrechte zusammengedacht werden müssen. Das „macht Veränderung“ und Hoffnung.
Die Frauen, die in der Fastenaktion vorgestellt werden, zeigen, wie widerständig Frauen sein können, sich gegen lebenszerstörende Verhältnisse auflehnen und zu Subjekten ihrer Befreiung werden. Frauen mit „Macht zur Veränderung“.

Warum ist das Thema Geschlechtergerechtigkeit gerade für Misereor und die Entwicklungszusammenarbeit von Bedeutung?

Das Ziel einer ganzheitlichen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) – und damit auch die Vision Misereors – ist eine gerechtere Welt mit der Möglichkeit zu einem guten, würdevollen, selbstbestimmten Leben Aller. Auch im Vorwort der SDGs wird diese Vision auf den Punkt gebracht: „niemanden zurück zu lassen.“

Aktuell ist immer noch fast die Hälfte der Weltbevölkerung von Armut, Gewalt und Diskriminierung betroffen und Frauen und Mädchen sowie nicht-heterosexuelle Personen zählen weltweit dazu.

Auf dem Weg zu dieser Vision gilt es, Quellen und Ursachen dieser Benachteiligungen aufzuspüren und zu entkräften. Daher ist die Gendergerechtigkeit, der Einsatz gegen Diskriminierung ein zentrales Thema der EZ. Darüber hinaus reicht es nicht aus, Gleichberechtigung von Mann und Frau anzustreben.

Wenn in einer Gesellschaft Empowerment gestärkt werden soll, müssen die Lebensbedingungen und Bedürfnisse aller Randgruppen – zum Beispiel Indigener und Geflüchteter – ebenso in den Blick genommen werden (vgl. Earth For All).

Mit der Diversität unserer Partnerorganisationen und deren Wirkungsbereichen versuchen wir einen Beitrag dahingehend zu leisten. Eingebettet ist das globale Netzwerk an partnerschaftlicher Zusammenarbeit in die Vision und Verpflichtung, gemeinsam an der sozial-ökologischen Transformation mitzuwirken. Das bedeutet eine umfassende Veränderung; soziale und ökologische Gerechtigkeit zusammenzudenken.

Welchen Beitrag kann Misereor in Deutschland auf politischer Ebene leisten, um dieser Vision zum Durchbruch zu verhelfen?

Wenn Entwicklungspolitik einem umfassenden Anspruch gesellschaftlicher Veränderung gerecht werden will und asymmetrische Machtstrukturen hinterfragt, dann reicht es nicht, Gender-Mainstreaming als Grundsatz zu definieren und Frauen und Mädchen in den Zielgruppenbeschreibungen entwicklungspolitischer Vorhaben zu priorisieren. Ebenso reicht es nicht, Geschlechterunterdrückung als einen Teilbereich zu verstehen.

Arbeiten für Geschlechtergerechtigkeit muss unweigerlich mit einer Kritik und Veränderung von Herrschaftsstrukturen eines globalen Kapitalismus einhergehen. Dies hat Misereor in seinen strategischen Eckpunkten verankert.

Welchen Beitrag kann Misereor zur Geschlechtergerechtigkeit leisten?

Im Kontext einer sozial-ökologischen Transformation wird spürbar, wie alles mit allem verbunden ist. Das Thema der Geschlechtergerechtigkeit ist Teil einer Verkettung, die mit Bildungschancen im Kindesalter beginnt und sich weiter durchzieht durch die Möglichkeiten einer Berufsausübung, damit verbunden eine finanzielle Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Erfahren und Kennen von Aufklärungsangeboten, dem Selbstbewusstsein einer emanzipierten Lebensgestaltung. Zentrale Elemente und Folgen einer Bildungsgerechtigkeit seien „soziale Mobilität und wirtschaftliche Sicherheit“, schreibt der aktuelle Bericht des Club of Rome, der gerade nach 50 Jahren neu erschienen ist. Das wiederum sind entscheidende Elemente für Teilhabe und Einflussnahme benachteiligter Gruppen am Prozess einer ganzheitlichen Transformation.

Diesen Zusammenhang beziehungsweise das Wirkungsgefüge zwischen Geschlechterungerechtigkeit, wirtschaftlicher Benachteiligung, mangelnder Teilhabe, Diskriminierung, neokolonialer Ausbeutung und Naturzerstörung immer wieder neu zu verstehen, aufzudecken und zu durchbrechen ist Teil des Auftrags von Misereor. Auch darauf richtet Misereor die Zusammenarbeit mit den Partnern und die inhaltliche Ausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit aus.

Imperialen Lebensweisen und präsenten kolonialen Prägungen kann sich Misereor nicht entziehen. Wir sind Teil der Verflechtungen und nehmen Teil an Privilegien.

Die Erdcharta, die 17 Nachhaltigkeitsziele, die Enzyklika Laudato si verdeutlichen, dass immer mehr Menschen sich Ressourcen anderer bedienen, um sich selbst einen relativ hohen Lebensstandard zu sichern. Wir sind mittendrin! Umstände, wie das finanzielle Gefälle in und zwischen Ländern und die Tatsache, dass patriarchale Strukturen so lange unsere Gesellschaft dominiert haben, dass es nur sehr langsam voran geht, eine von der männlichen Hierarchie geprägten Denkweise (Earth For All) abzubauen, sind schmerzlich und die größte Hoffnung gibt uns aktuell der kontinuierliche Dialog mit Partnern weltweit.

Was wir aber immer tun können und tun ist, Stimmen von benachteiligten Gruppen, von Frauen aus Partnerorganisationen hörbar zu machen und durch unsere hiesigen Kanäle der Öffentlichkeitsarbeit zu kommunizieren. Wir können Erzählen, wie Frauen – oft ohne große mediale Öffentlichkeit – aus ihrem Glauben heraus sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen. Sie sind diejenigen, die zeigen, wie Kirche und Gesellschaft anders sein und praktisch werden können.
Und natürlich will sich Misereor auch in der deutschen Ortskirche für den globalen Blick auf Gendergerechtigkeit und gegen Diskriminierungen aller Art einsetzen. Wir beteiligen und positionieren uns in den Diskussionen und vernetzen unsere Akteure und Akteurinnen mit Politik und kirchlicher Öffentlichkeit. Wir sehen dies als Chance, Stück für Stück den Traum einer anderen Welt (und Kirche) möglich zu machen.

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Informationen zu Thema und Land der Fastenaktion (misereor.de)

Männer: Neue Rollenbilder gefragt – Misereor-Blog


Sie sind Visionärinnen. Kämpferinnen. Trägerinnen von Entwicklung. Sie sind „Starke Frauen“. In unserer Reihe stellen wir sie und ihre Geschichten vor.

Alle Interviews im Überblick ►

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Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer bei Misereor. Bevor er 2012 zu Misereor kam, war er 15 Jahre in Brasilien als Pfarrer tätig und bildete in verschiedenen Ländern Lateinamerikas Laienmissionare aus.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Avatar-Foto

    Sehr geehrter Herr Hauptgeschäftsführer von Misereor!
    Ich kann Ihnen für Ihr Engagement in Sachen Gendergerechtigkeit ein hohes Lob aussprechen; leider haben Sie hier mit keinem Wort einen Umstand erwähnt (nur angedeutet), der allem Reden über dieses Thema im Rahmen der röm.-Kath. Kirche jegliche Glaubwürdigkeit nimmt. In der Öffentlichkeit gelten wir deshalb als die stärksten Gegner einer Gendergerechtigkeit, selbst wenn das gar nicht der Fall ist – werden wir zu Recht an unserer Position daran gemessen. Und solange wir Frauen das Priestertum verwehren, sind wir weiterhin als die ewig Gestrigen verschrien. Ein Kuschen vor Rom ist daher nun nicht mehr hinnehmbar, wenn selbst die deutschen Bischöfe auf dem Synodalen Weg mit über Zweidrittelmehrheit endlich einen Schlussstrich hinter diese leidige Thema ziehen wollen und die sind alle nur Bischof geworden, weil Sie vor ihrer Wahl unter anderem gerade dazu eine gegenteilige Meinung vertreten haben.
    Vor wem also fürchten Sie sich jetzt noch immer. Mehr Mut, damit Sie sich selbst noch ins Gesicht sehen können, wäre fortan unbedingt angebracht. Werfen Sie mal einen Blick auf die Website von Maria 2.0 und stärken Sie dieser Gruppe, die das Kuschen leid ist, den Rücken. Denn erst, wenn wir alle in dieser Frage an einem Strang ziehen, ist Erfolg in Sicht. Je später sich dieser einstellt, umso stärker der Schaden für ein glaubwürdiges Priestertum heute. Sehen Sie das auch so?
    PS: Selbst die Interview-Form, die hier gewählt worden ist, zeigt wie abhängig der Fragende von Rom sich outet; denn es ist doch undenkbar, dass heute noch ein Interview in der Öffentlichkeit zu diesem Thema möglich wäre, ohne die Frage nach der Weihe von Frauen anzusprechen. Warum um den heißen Brei herumreden und das Problem nicht beim Namen nennen? Ist das die berühmte Schere im Kopf oder welche Ausrede haben Sie dafür?

  2. Avatar-Foto

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    da ich in der Fastenzeit wieder einen Kreuzweg für unsere Kolpingsfamilie anbieten möchte, hätte ich gerne 1 x die Unterlagen für den diesjährigen Misereor-Kreuzweg!
    Vielen Dank und alles Gute
    Gabriela Bechtold
    Auf der Heide 32
    31141 Hildesheim

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