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Zwischen Alltag und Ausnahmezustand im Libanon

Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat auch vieles im Nachbarland Libanon verändert. Nach fast vier Monaten Krieg in Gaza ist nun wieder ein gewisser Alltag eingekehrt. Doch noch immer ist das Land  im Ausnahmezustand, weil keiner weiß, ob der Konflikt  sich nicht doch noch auf den Libanon ausweitet.

Beirut © Jo Kassis
Die libanesische Hauptstadt Beirut. © Jo Kassis

Als die israelische Regierung am 8. Oktober als Reaktion auf den Terrorangriff den Krieg gegen die Hamas erklärte, war man auch im Libanon tief beunruhigt und viele Menschen hatten Angst. Angst vor einem weiteren Krieg mit Israel, denn die Erfahrungen des Krieges von 2006 sind noch präsent. Damals hatten sich die Konflikte zwischen der mächtigen schiitischen Miliz Hisbollah und der israelischen Armee ausgeweitet und nachdem die Hisbollah Israel mit Raketen beschossen hatte, setzte Israel Landstreitkräfte im Südlibanon ein, bombardierte die Hauptstadt Beirut und ihre Infrastruktur, wie den Flughafen

Unmittelbar nach dem 7. Oktober verließen viele Familien aus Angst vor Angriffen aus Israel ihre Dörfer im Süden des Libanons. Mehr als 85.000 Menschen sind seitdem zu ihren Familien in den Städten oder in Notunterkünfte gezogen. Schulen sind im Süden geschlossen, Felder liegen brach und noch gibt es keine Aussicht für die Menschen, in ihre Dörfer zurückzukehren.

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel und der Kriegserklärung von Israel waren die darauffolgenden vier Wochen im Libanon eine Zeit größter Unsicherheit, Anspannung und dauernder Angst, dass die Hisbollah in den Krieg eintreten werde. Als der Hisbollah Führer Nasrallah sich dann Anfang November in einer langerwarteten Rede zum Krieg äußerte, stand das Land still. In der Rede feierte Nasrallah die Hamas, drohte und verdammte Israel und die USA, aber er kündigte keine Offensive an. Auch wenn er hinzufügte „Alle Szenarien sind möglich“.

 Die Rede wurde allgemein mit Erleichterung aufgenommen und während man im Dezember in Deutschland weiterhin an Evakuierungsplänen für deutsche Staatsbürger im Libanon arbeitete, setzte im Land selber eine gewisse Entspannung ein. Der Alltag in großen Teilen des Libanon ging weiter , es wurden wieder Pläne im privaten wie im beruflichen Leben gemacht. Weihnachtsmärkte und die jährlichen Konzerte in der Adventszeit fanden statt.

Karte Naher Osten © Getty Images
Durch die Nähe zu Syrien, Israel, dem Irak und weiteren Nahost-Staaten ist der Libanon häufig von Konflikten umgeben. © Getty Images

Die libanesische Bevölkerung ist dafür bekannt, mit Krisen und Krieg  pragmatisch umgehen zu können.  Aber auch wenn der Alltag weitergeht, so ist der Krieg in Gaza und das Leid der Palästinenser jeden Tag in den Nachrichten und in den sozialen Medien omnipräsent. Die grausamen Bilder aus Gaza, die Zahlen über Tote und Verletzte – die Nachrichten laufen in Dauerschleife. Und weil die libanesischen Medien ziemlich einseitig berichten, sind auch die Diskussionen meist undifferenziert. Viele Freunde sagen mir mittlerweile, sie nehmen derzeit Abstand von sozialen Medien, weil sie die grausamen Nachrichten, die Art der Berichterstattung und auch viele Falschnachrichten nicht ertragen können. „Wir leben und wir arbeiten – aber oft nur mit  50 % der normalen Kapazität. Wir sind beunruhigt und besorgt. Wie kann ich sagen, dass es mir gut geht – bei so viel Leid im Nachbarland“, so fasste es neulich ein Freund zusammen.

Auch im Libanon merke ich, wie man sich an den Krieg, an das Leid in der unmittelbaren Nähe irgendwie gewöhnt. Es gibt keine Demonstrationen mehr, um die Solidarität und die Unterstützung für die Palästinenser zu bezeugen. Es kommt nur noch vereinzelt zu hitzigen Diskussionen mit Freunden und Bekannten, in denen dem Westen im Allgemeinen, und den USA und Deutschland im speziellen, die bedingungslose Unterstützung Israels und Doppelstandards in der Anwendung des humanitären Völkerrechts (auch) in Gaza vorgeworfen wird.

Nach fast vier Monaten ist  man fast erschöpft,  jeden Tag über den Krieg im Nachbarland nachzudenken. Nicht zuletzt, weil die Menschen im Libanon praktisch dauerhaft  im Krisenmodus  leben: Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist noch lange nicht überwunden. Seit Jahren gibt es nur eine Übergangsregierung, der Posten des Präsidenten ist seit eineinhalb Jahren unbesetzt. Die Armut, die große Teile der Mittelschicht erreicht hat, führt dazu, dass viele Menschen zwei bis drei  Jobs haben, um  überleben zu können. Und diejenigen, die Arbeit haben, sind zufrieden, dass sie einer Beschäftigung nachgehen. Viele Familien sind mittlerweile vollständig auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die öffentlichen Schulen, wie auch die gesamte Verwaltung, funktionieren kaum noch.

Der Dauerzustand  Krise im Alltag ist allgegenwärtig und ich bin erstaunt, wie die Bevölkerung im Libanon das meistert. Nur eins ist schlimmer als der tägliche Kampf um den Lebensunterhalt: die Angst vor einem erneuten Krieg mit Israel.

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Karin Uckrow leitet die Dialog- und Verbindungsstelle Libanon/Naher Osten von Misereor.

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