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Leben wie ein bescheidener Teil des Ganzen

Vierzehn Jahre lang prägte Prof. Dr. Josef Sayer als Hauptgeschäftsführer die Arbeit von MISEREOR, bis er 2012 von Pirmin Spiegel abgelöst wurde. Zu seinem 75. Geburtstag sprachen wir mit ihm über seine Zeit bei MISEREOR, seinen Alltag und was ihn beschäftigt.bau_3458

Vor vier Jahren sind Sie aus dem Amt des Hauptgeschäftsführers bei MISEREOR ausgeschieden. Wie sieht ihr Alltag heute aus? Ruhe- oder Unruhestand?

Josef Sayer: 75 Jahre, das heißt, schlicht 75 Mal mit der Erde um die Sonne gekreist – so bedeutsam finde ich das gar nicht. Mein Alltag heute? Er ist keinesfalls vergleichbar mit der Zeit bei MISEREOR. Tagtäglich von morgens bis spät nachts die vielfältigen Aufgaben – sehr interessant aber auch sehr stressig. Jetzt hingegen ist da viel mehr Zeit zum Beobachten, einen Überblick zu gewinnen und ruhiger nachzudenken für meine Beratungstätigkeit in Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika. Die Option, die MISEREOR kennzeichnet, jedoch ist gleichgeblieben, nämlich die Sorge um ein menschenwürdiges Leben aller und die Achtung der Mitwelt. „Mit Zorn und Zärtlichkeit an der Seite der Armen”, so haben wir das in einer Fastenaktion ausgedrückt.

In Ihrer Zeit bei MISEREOR: Was war Ihre größte Herausforderung,  Ihr größter Erfolg,  eine besondere Geduldsprobe, eine Niederlage?

Um beim Letzten, der Niederlage anzufangen: Dass MISEREOR noch weiter existieren muss, trotz der MDGs, der SDGs etc. und nicht obsolet geworden ist, das schmerzt.

Fatale Ich-Bezogenheit

Dass die Orientierung am Weltgemeinwohl gerade in den Industrieländern noch so schwach ist, das ist fatal. Die Vision von einem Solidaritätsruck durch die Völkergemeinschaft nach 1989, nach 2.000 – vertane Chancen. Stattdessen populistische, nationale Machtegoismen oder engstirnige Gewinninteressen der transnationalen Konzerne auf Kosten und unter Vernachlässigung der Armen, der verletzlichen Länder, der Mitwelt. Eigentlich unglaublich und unwürdig des 21. Jahrhunderts.

Wie steht es mit Ihrem größten Erfolg?

In solchen Kategorien habe ich nicht gedacht. Von den Campesinos und den Elendsviertelbewohnerinnen und -bewohnern in Peru habe ich gelernt: Nicht auf individualistisches, auf den eigenen Vorteil bedachtes einander Übertrumpfen – was das kapitalistische Denken prägt – kommt es an, sondern den einzelnen Menschen in der Gemeinschaft verankert zu sehen. Da sind die indigenen Völker viel näher bei Jesus als wir „westlich fortschrittlichen“ Modernen. Das Schöne und Wohltuende bei MISEREOR war und ist es doch, dass es eine gemeinsam ringende Gemeinschaft ist. Jede und jeder bringt sich ein. Erst dadurch gibt es ein Stück. Ich habe mich als Mitarbeiter verstanden. Die vielen guten, engagierten Ideen, Beobachtungen, Analysen und Projektvorschläge kamen doch nicht von mir als Geschäftsführer. Das kreative Zusammenwirken aller ist das Entscheidende…

Und die internationale Perspektive…?

… genau das war doch das A und O, das mich bewegte: Bei MISEREOR geht es doch klar und eindeutig darum, dass die Geschäftsstelle in Aachen nur ein bescheidener Teil des Ganzen ist: zu MISEREOR gehören doch die ungezählten Spenderinnen und Spender, die Gruppen, die Haupt- und Ehrenamtlichen in den Pfarreien, die Schulpartnerschaften etc., die sich die Not der Armen und den Schrei der Schöpfung zu Herzen gehen lassen. Oder denken Sie an die mehr als 3.000 Partnerorganisationen in Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika: ohne diese ist MISEREOR nicht. Was diese im Kampf um mehr Gerechtigkeit und Menschenwürde und z.B. gegen den Klimawandel bewirken und nach Deutschland rückmelden, – all das macht doch erst MISEREOR aus. Das ist doch der wahre Reichtum „MISEREORs“, das schon vom Namen her Gottes Erbarmen in Gerechtigkeit heute bezeugen soll. Die Geschäftsstelle kann ich nur beglückwünschen, Drehscheibe dieses weltweiten Engagements zu sein.

Was hat Ihnen geholfen, auch mit Niederlagen umzugehen? Ihre persönliche Haltung, Ihr Wissen, Ihr Glauben, Ihr Umfeld?

Eine Antwort darauf lässt sich bereits aus dem eben Gesagten erschließen. Eines möchte ich jedoch noch anfügen. Um dieses Eine beneide ich die Leitung und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter MISEREORs heute: Einen Papst Franziskus gab es während meiner 15 Jahre Arbeit bei MISEREOR nicht. Schritt halten mit dem Autor von “Laudato Si”.

So einen Impulsgeber, mutig Voranschreitenden, die Lebenswirklichkeiten in all ihren Facetten ernst Nehmenden und den christlich-menschlichen Glauben Vorlebenden an der Spitze der Kirche zu haben, ist die zentrale Veränderung! Innerkirchliche Kämpfe gegen gewisse Strömungen haben einige Energien absorbiert. Völlig unnötiger Weise. Jetzt ist plötzlich das Gegenteil eingetreten. Jetzt müssen wir uns bemühen, mit Franziskus Schritt zu halten in der Nachfolge Jesu. Ich erwähne nur seine programmatischen Schriften „Evangelii Gaudium“ und „Laudato Si‘“, über die ich zur Zeit häufig mit kirchlichem Führungspersonal in den Südkontinenten arbeite. – Das freut mich für MISEREOR ungemein! Was Frings einst mit der Gründung und Namensgebung ausdrückte, hat Franziskus für unsere Zeit um einiges überboten. Ist das nicht wunderbar für die MISEREOR-Bewegung!

Nach wie vor sind Sie viel in Afrika, Asien und Lateinamerika unterwegs. Wie werden Sie persönlich damit fertig, vielen Menschen in tiefster Not nicht direkt helfen zu können?

Da ich jetzt viel mehr Zeit für Begegnungen mit Menschen und Partnern habe, lerne ich, was früher zu kurz gekommen ist und ein echter Mangel war. Früher bei Reisen kam ich in ein Land, ein paar Projektbesuche, Vorträge, Zeichen der Solidarität in Kriegsgebieten setzen zum Beispiel und schon ging es weiter. Jetzt ist es anders. Eben war ich sieben Wochen in Ozeanien: Da kann ich mit viel größerer Gelassenheit Menschen begegnen. In Tuvalu zum Beispiel war ich eine Woche Pfarrer: jeden Abend Gottesdienst und lange Gespräche. Da bricht es aus den Menschen heraus, wie ihr Leben angesichts des Klimawandels und des steigenden Meeresspiegels bedroht ist. Plötzlich nach 2.000 Jahren steht die Existenz dieser Inselstaaten und flachen Küstengebiete auf dem Spiel.

Mit den Ärmsten vor Ort leben

Im Pfarrhaus, wo ich wohnte, waren es ganze 70 Meter von Meeresküste zu Meeresküste und dies 1,5 Meter über dem Meeresspiegel. Andere Stellen sind viel schmaler. Eltern packen bei Sturmfluten ihre Kinder in Schwimmwestern, damit sie über Wasser bleiben. Steigender Meeresspiegel und Fluten versalzen das Grundwasser und kosten das Leben von Kleinkindern… Nach solchen Schilderungen erachte ich die Rattenplage nachts im Pfarrhaus als etwas Beiläufiges. Die Wut kommt hoch darüber, dass eigenständige Kulturen und funktionierendes menschliches Leben ohne Hunger plötzlich in wenigen Jahrzehnten im wahrsten Sinne des Wortes untergehen sollen. Nur weil die reichen industrialisierten Länder – wider klares Faktenwissen – munter weiter Treibhausgase emittieren aus egoistischen Gewinninteressen und nicht bereit sind, ihr dominantes Industriemodell auf erneuerbare Energieträger umzustellen oder ihren Lebensstil am Gemeinwohl wirklich aller Menschen und der Natur auszurichten.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen der nächsten Jahre?

Zweifellos in dem, was Franziskus in „Laudato Si‘“ die soziale Krise und die ökologische Krise mit dem Klimawandel nennt. Den Schrei der Armen und den Schrei der Natur hören. Ich bin froh, dass hier MISEREOR gut auf dem Weg ist und seit 2006 zusammen mit dem PIK (Potsdam Institut für Klimafolgenforschung). Weiter so! Bewusstseinsbildung in Nord und Süd für die erkannten und notwendigen Transformationsprozesse. Wir leben in einem gemeinsamen Haus, in unterschiedlichen Stockwerken und Wohnungen. Aufeinander und einander zu achten als von Gott geschaffene Menschen und von ihm mit je gleicher Würde ausgestattet, ob im Norden oder Süden, Osten oder Westen. Das ist SEIN Urvermächtnis an alle. Daher kann niemand ausgeschlossen und keine Wohnung abgeschrieben werden, ohne nicht langfristig den Frieden im ganzen Haus zu gefährden. Und vor allem auch die Würde des Lebens der künftigen Generationen und des Planeten Erde zu antizipieren. Das macht doch unser Menschsein aus!

Was wünschen Sie MISEREOR zum 60. Jubiläum im Jahr 2018?

Mutig auf den Spuren von Papst Franziskus weiterschreiten!

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Michael Mondry arbeitet als Referent in der Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei MISEREOR. Hier ist er unter anderem für das Magazin verantwortlich.

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