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Libanon: Mit Kraft nach der Zukunft greifen

Kinder, die mit Feuereifer bei der Sache sind, vergessen alles um sich herum. Die Kinder, die ich in der Dar al Hanan-Schule im Libanon im Februar besuchte, haben mich mit ihrer Begeisterung sofort angesteckt. „Dar al Hanan“ bedeutet „Haus des Mitgefühls“.

In warme Jacken eingepackt trotzen die Kinder der Kälte im Klassenzimmer. Ihre Gesichter strahlen, als sie uns mit englischen und französischen Worten begrüßen. Während des Unterrichts hängen sie an den Lippen ihrer Lehrerinnen. Das berührt mich: Mit voller Kraft greifen diese Kinder nach einer Zukunft, die ihnen  bislang verwehrt war. Der Krieg hat ihnen ihre Heimat genommen und oft schwere Wunden zugefügt.

Auch unter widrigen Umständen nutzen die Kinder ihre Chancen:
Sie lernen voller Energie und Freude. © Greven | MISEREOR

Heute schreibe ich Ihnen anlässlich unserer diesjährigen Fastenaktion. Ihr Motto lautet „Gib Frieden!“, und im Libanon habe ich oft gedacht, dass die aus Syrien geflüchteten Menschen diesen Appell auf eindringliche Weise verkörpern: Sehnsucht nach Leben und Frieden! Unterstützt von MISEREOR arbeitet in dieser belasteten Region eine Vielzahl von Projektpartnern ausdauernd daran, ein friedliches Miteinander zu fördern. Während der Fastenzeit laden wir Sie dazu ein, selbst einen Beitrag dazu zu leisten – im wahrsten Wortsinn Frieden zu geben .

Fragile Sicherheit

Den Geflüchteten, die wir im Libanon getroffen haben, bietet das Land Schutz. Sie konnten die Schrecken des jahrelangen Bürgerkriegs in Syrien hinter sich lassen; ein Land, das immer noch unter dem Schatten einer der größten humanitären Katastrophen unserer Zeit steht. Ein Gesprächspartner aus Syrien machte eine erschreckende Feststellung: „Das Schweigen der Weltgemeinschaft ist die letzte große Bombe, die nun auf Syrien fällt.“ 500.000 Menschen fliehen aktuell aus Idlib und es scheint kaum jemanden zu interessieren. Laut UN-Schätzungen wurden rund 11 Millionen Menschen aus ihrer Heimat in Syrien vertrieben. Viele sind im eigenen Land geblieben oder haben bei den direkten Nachbarn Aufnahme gefunden. Der Libanon ist zum wichtigsten Zufluchtsland der Syrer geworden.

Die Sicherheit im Land ist nach wie vor eine zarte Pflanze. So stand bis kurz vor dem Abflug nicht fest, ob unsere zehnköpfige Gruppe die Reise würde antreten können. Im Land herrschen Unruhen und Proteste. Der Libanon steht vor riesigen Herausforderungen. Er hat nur vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, nun kommen eine Million offiziell registrierte syrische Geflüchtete hinzu sowie eine weitere halbe Million nicht registrierte Flüchtlinge. Etwa 400.000 palästinensische Geflüchtete leben schon seit Jahren hier. Dabei trägt das Land selbst schwer an seiner Geschichte von inneren Konflikten, die zwischen 1975 und 1990 immer wieder in blutigen Auseinandersetzungen eskaliert sind. Ein komplexes System der politischen Vertretung aller Religionsgruppen sorgt dafür, dass das Zusammenleben zwischen ihnen friedlich bleibt, begünstigt allerdings Vetternwirtschaft.

Die Not der Hilfesuchenden und die Not der Helfenden

Vor diesem Hintergrund wird die Leistung, die die Menschen im Libanon seit Jahren erbringen, zunehmend zur Belastungsprobe. Das bereits marode Gesundheitssystem ächzt unter der Zuwanderung. Viele Geflüchtete brauchen langfristig medizinische Hilfe, nicht nur in körperlicher Hinsicht. Die entsetzlichen Erlebnisse haben sie traumatisiert und sie können das Geschehene nicht allein verarbeiten. Ohne berufliche Möglichkeiten können sie  nicht aus eigener Kraft ihren Unterhalt bestreiten. Besonders in Wohngebieten, wo sie sich informell angesiedelt haben, werden Nahrung, Kleidung, Wasser und Strom immer wieder knapp. Zu Beginn der Krise haben gerade die Armen selbstlos geholfen; Familien haben Geflüchtete in ihr Heim aufgenommen. Inzwischen kämpft die lokale Bevölkerung selbst mit zunehmenden wirtschaftlichen Problemen. An bezahlbarer guter Bildung fehlt es vielerorts, vor allem für die Geflüchteten. Schlechte Lebensbedingungen, Spannungen und Perspektivlosigkeit sind eine explosive Mischung. Viele syrische Kinder haben seit Jahren keine Schule besucht. Eine „verlorene Generation“ droht zu entstehen.

Viele Quellen löschen das Feuer

Wir alle können Frieden in unsere Hände nehmen und weitergeben – wie das Hungertuch, das ich den Good Shepherd Sisters überreichte.

Die Bedrohungen für den Frieden sind vielfältig. Schlecht verheilte und offene Wunden, materielle Not, Zukunftssorgen und Resignation bedrohen ihn jeden Tag. Hier können einfache Ansätze nicht nachhaltig wirken – ein Grund, warum MISEREOR im Libanon und in Syrien mit verschiedenen Projektpartnern zusammenarbeitet. Sie widmen sich unterschiedlichen Schwerpunkten und fügen so wichtige Steine zu einem Mosaik der Hoffnung zusammen. Manche Hilfen setzen elementar an, zum Beispiel mit Mahlzeiten, warmer Kleidung und Decken. Andere Hilfen, wie die der Good Shepherd Sisters, setzen auf Heilung. Ihre Gesundheitszentren bieten vielen Menschen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Psychosoziale Begleitung heilt ebenfalls – seelische Not, Isolation und berufliche Orientierungslosigkeit. Wenn die akute Not überwunden ist, schaffen Bildungsangebote die Basis für eine gute Kommunikation im Land und eine bescheidene berufliche Zukunft jedes Einzelnen. So unterschiedlich die Projekte sind, eins haben sie gemeinsam: Sie richten sich immer an alle Betroffenen vor Ort, an Geflüchtete und Einheimische, an Menschen aller Religionsgemeinschaften. Das verbindet und fördert Solidarität.

Aufbruch in ein neues Leben

Welche starke Wirkung die Projekte unserer Partner entfalten, haben wir hautnah gespürt, als wir das Karagheusian Social Center im verarmten Beiruter Stadtteil Bourj Hammoud besucht haben. Hier hat unser Projektpartner Pontifical Mission (PM) eine pulsierende Anlaufstelle für jährlich 50.000 Menschen geschaffen. Das Angebot ist groß. Sprachkurse, in denen Geflüchtete Englisch und Französisch lernen, bereiten den Boden für Verständigung. Besonders starke Resonanz findet die psychologische Betreuung. Bei einem Gruppentreffen erleben wir mit, wie die teilnehmenden Frauen einander stärken. Die Lebensgeschichten, die sie erzählen, erschüttern. Doch es steht mehr im Raum als das schwer erträgliche Grauen des Geschehenen. Wir spüren, dass die Frauen hier auf einem Weg der Heilung sind. Diesen Weg können sie im Karagheusian Social Center über die Traumabewältigung hinaus weiter gehen in ein Leben mit eigenem Einkommen. Spezielle Kurse bereiten die Frauen darauf vor. Sie können sich etwa als Friseurin oder Visagistin ausbilden lassen oder städtische Landwirtschaft erlernen, um ihre Familien besser zu ernähren. Libanesische Köchinnen und Köche unterstützen das Projekt tatkräftig und lehren die Zubereitung lokaler Köstlichkeiten.

Würde ist stärker als Angst und Aggression

Etwas leisten, das Leben gestalten, stolz sein: Dank unserer Projektpartner finden gute Gefühle wieder Raum im Leben der Geflüchteten.

Als uns die Teilnehmerinnen eines Kochkurses freudig mit selbst zubereiteten und angerichteten Süßigkeiten bewirten, wird uns klar: Aus bedürftigen Hilfe-Nehmerinnen sind stolze Gast-Geberinnen geworden, die sich selbst und anderen Menschen Genuss bereiten. Ihre kunstvoll aufgebaute Torte wirkt auf uns alle wie ein Goldschatz. Über das Gastgeschenk, das wir mitgebracht haben, freuen wir uns ebenfalls gemeinsam: ausdrucksstarke Fotoalben mit Bildern der Menschen des Karagheusian Social Center. Diese Alben im großen Kreis zu betrachten ist ein besonderes Erlebnis. Wir erkennen die wohl wichtigste Leistung unseres Projektpartners: Die Pontifical Mission bringt Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen auf Augenhöhe zusammen. Sie ermöglicht es ihnen, frei und offen zu sprechen und zu leben.

Einsatz, der den Unterschied macht

© Greven | MISEREOR

Der zentrale Zusammenhang von Sprache und Würde ist uns im Verlauf unserer Reise immer wieder begegnet, etwa als wir im Bekaa-Tal im Nordosten des Libanon den Flüchtlingsdienst der Jesuiten besuchten. Dieser Projektpartner deckt ein breites Spektrum der Hilfe ab, von der Notversorgung bis zur Berufsausbildung. Unter anderem betreibt er die Schule, von der ich zu Beginn dieses Briefes schon berichtet habe. Von den Kindern und Jugendlichen, die ich dort kennenlernte, hatten einige als Folge der furchtbaren Kriegs- und Fluchterlebnisse buchstäblich ihre Sprache verloren. Umso beeindruckender empfand ich die Verwandlung, für die unser Partner den Weg geebnet hat. Mit unermüdlichem Einsatz, mit Wärme und Zuwendung haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter es geschafft, in den traumatisierten Kindern  wieder Vertrauen zu wecken. Das hat uns tief beeindruckt und weckt Hoffnung inmitten von Unsicherheit und auflodernden Konflikten: Hier wachsen Kinder heran, die lernen wollen, die ihre Zukunft in die Hand nehmen wollen. Kinder, die sich verständigen wollen, um individuelle und gemeinsame Ziele zu erreichen. Sie können Teil einer konstruktiven Generation sein – keiner verlorenen.

Gib Frieden!

Dorothee Klüppel, Abteilungsleiterin Naher Osten, überreichte Anoud Raslan, dem Gesicht unserer diesjährigen Fastenaktion, das Plakat als Geschenk.

Für nachhaltige Friedensgestaltung sind nicht nur Akteure vor Ort gefragt. In unserer vernetzten Welt wirken Handlungen  auch über bestehende Grenzen hinweg. Lassen wir nicht zu, dass die Weltöffentlichkeit ihre Augen von Syrien und den Vertriebenen abwendet. Wenn das Interesse der Medien und der Politik nachlässt, dann werden Krieg und Zerrüttung hier zu traurigen, etablierten Konstanten. Aber so einen „Normalzustand“ sollte die Region nicht akzeptieren müssen. Schauen wir wieder hin! Nehmen wir Anteil an den Sorgen der Menschen, aber ebenso an ihrem Mut und ihrer Stärke. Nehmen wir das Leiden und die Ausgrenzung wahr. Und gehen wir dann den nächsten Schritt: Zeigen wir Solidarität mit den Menschen im Libanon, die selbst solidarisch leben. Unsere Projektpartner sind mit uns und verwandeln jede Unterstützung für MISEREOR in große Tatkraft. So geben Sie mit einer Spende für die Traumatisierten, Entwurzelten und Armen im Libanon und in Syrien mehr als Geld. Sie geben Versorgung, Heilung, Würde und Zukunftsperspektiven – Bausteine des Friedens.

Ihr Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer


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…zur Fastenaktion unter www.misereor.de/fastenaktion

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Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer bei Misereor. Bevor er 2012 zu Misereor kam, war er 15 Jahre in Brasilien als Pfarrer tätig und bildete in verschiedenen Ländern Lateinamerikas Laienmissionare aus.

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