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Flatternde Lungen

„Wenn einer bald stirbt, dann kann ich das spüren“, sagt Xu Yundong und legt einem hageren Bauern die Hand auf die Schulter. „Dann flattert die Lunge.“ Xu muss es wissen: Er hat das Flattern bei so vielen gespürt: Bei seinen Kollegen in der Schleiferei für Halbedelsteine, wo er sich selbst, als einer der ganz wenigen mit abgeschlossenen zwölf Jahren Schulbildung, zum Manager hochgearbeitet hat.

Die Folgen jahrelangen Steineschleifens sind nicht zu übersehen.

Die Folgen jahrelangen Steineschleifens sind nicht zu übersehen.

Bei anderen jungen Männern aus seinem Dorf im Norden Chongqings, wo jede Familie nach der Landreform nur ein mu bekam [das entspricht einer Größe von zweieinhalb Tennisplätzen], wovon sie sich gerade so satt essen kann, und von wo bereits 1988 großen Scharen aufgebrochen sind, um in der tausend Kilometer entfernten Sonderwirtschaftszone Shenzhen Arbeit zu finden. Dann hat er das Flattern bei den Arbeitern gespürt, die wie er nach Shenzhen zurückgekehrt waren, um in jahrelangen Prozessen eine Entschädigung zu erstreiten, oder – weil sie nichts anderes gelernt hatten – weiter Steine zu schleifen, dann aber nicht mehr als Angestellte, sondern als Scheinselbständige. „Die großen Unternehmen haben inzwischen alle eine ordentliche Schleiferei, wo die Arbeiter unter Abzügen arbeiten Masken tragen. Die werden den Kontrolleuren und Kunden vorgeführt. Und dann haben sie eine Menge Scheinselbständige, auf die sie bei grossen Bestellungen zurückgreifen können und die die Dreckarbeit billiger machen“, sagt Xu und schüttelt den Kopf: „Die arbeiten unter den gleichen Bedingungen wie wir damals. Ein Baumwolltuch vor dem Mund, die Fenster fest geschlossen. Auf drei oder vier Meter kannst Du keinen erkennen.“ Leider kann Xu nicht davon ausgehen, dass es in Zukunft weniger Staublungenkranke gibt.

Hinter und vor den Kulissen - Arbeiter in der Edelsteinschleiferei

Hinter und vor den Kulissen – Arbeiter in der Edelsteinschleiferei

Etwas hat sich aber trotzdem geändert.
Während vor zehn Jahren die meisten Staublungenkranken verschämt in ihre Dörfer zurückkehrten und dort aus Angst vor Gerede versuchten, ihr erschöpftes Keuchen zu verbergen, stehen sie heute nicht mehr allein da. Im Dorf Xu im Kreis Pengan hat der Staublungenkranke Feng Xingzhong eine Anlaufstelle eingerichtet. In Schnellheftern sammelt er Material zu repräsentativen Fällen und typischen Fallen – mangelnden Beweisen, verstrichenen Fristen. Wo klagen, wenn das Unternehmen umgezogen ist? Was tun, wenn der Besitzer behauptet kein Geld hat? Auch ohne formale juristische Ausbildung kann Feng Kranken gute Ratschläge erteilen – kostenlos, aber nicht umsonst. Das beweisen die Dankesbriefe an der Wand, aber auch das eine oder andere mit Entschädigungsgeldern gebaute Haus in der Umgebung [Entschädigungen liegen zwischen umgerechnet 20.000 und 50.000 Euro, auf dem Land reicht das für ein Haus].

Wie kleine Vorschüsse helfen
In Liangping in Chongqing vergibt Xu bis zu 2.000 Yuan Vorschüsse an Kranke, damit die überhaupt erst einmal die teure Untersuchung im Spezialkrankenhaus für Berufskrankheiten bezahlen und einen Anwalt nehmen können. Außerdem schreibt er für sie Eingaben an verschiedene Regierungsstellen – wenn sich (möglicherweise bestochene) Ärzte weigern, diese Untersuchung durchzuführen, wenn sich (möglicherweise bestochene) Richter weigern, eine Klage anzunehmen. In Shenzhen gibt es eine Anlaufstelle für die dort prozessierenden Kranken, die sie mit Kontakten – angefangen von Telefonnummern von unbestechlichen Rechtsanwälten bis hin zu den Personalausweisnummern von Unternehmenseigentümern – versorgt, (kleine) Demonstration organisiert und verschiedenen Regierungsstellen Forderungskataloge – in China eher in der Form von Verbesserungsvorschlägen – übergibt. Einige haben tatsächlich schon zu Gesetzesänderungen geführt.

Mutter und Sohn trauern um den verstorbenen Vater.

Mutter und Sohn trauern um den verstorbenen Vater.

Und schließlich gibt es in Hongkong den langjährigen Misereor-Partner Labor Action China, der diese drei Zentren aufgebaut hat, der die Staublungenkranken zu (großen) Demonstrationen vor Unternehmenszentralen in Hongkong einlädt [Chinesen aus der Volksrepublik brauchen für Hongkong ein Visum] oder ein paar wenige in die Schweiz zur weltgrößten Schmuckmesse, der Baselworld, einfliegt. Mit den Kranken konfrontiert sagten die Veranstalter zu, dass zumindest die Unternehmen, die in China rechtskräftig zu Entschädigungen verurteilt wurden, aber diese nicht zahlen, nicht mehr ausstellen dürfen. Und bisher haben die Veranstalter ihr Wort gehalten.

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Wolf Kantelhardt unterstützt seit 2005 chinesische Partnerorganisationen im China-Verbindungsbüro von MISEREOR. Seit elf Jahren lebt er in der Volksrepublik China. Wolf Kantelhardt studierte Betriebswirtschaftslehre und Sinologie an der Universität Trier, interessiert sich für Übersetzungen und läuft, wenn die Feinstaubbelastung PM 2,5 unter 35 Mikrogramm pro Kubikmeter sinkt.

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