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Tetanus – die Geschichte eines Wunders in Äthiopien

Dies ist die Geschichte von Workenesh. Es ist eine Geschichte voller Gewalt und voller Schmerz; und es ist die Geschichte eines Wunders.

Viel Zeit ist vergangen bis zu diesem Moment des Einverständnisses (Foto von P. Hedemann)

Bis zu ihrem 17. Lebensjahr hat Workenesh ein Leben geführt wie jedes andere Mädchen im Gurageland auch. Am Anfang ein bisschen Schule, später vor allem Arbeit auf dem Feld, um die Familie nach Kräften zu unterstützen. Als das nicht mehr ausreicht und das Essen für die Kinder immer knapper wird, beschließen Workeneshs Eltern, ihre Tochter nach Addis Ababa zu schicken. Dort soll sie bei einer reichen Familie als Hausmädchen arbeiten.

Ein Jahr ist Workenesh in Addis. Ein Jahr schuftet sie sich Tag für Tag den Rücken krumm. Ein Jahr wird sie Nacht für Nacht vom Hausherrn in ihrer Kammer vergewaltigt.

Irgendwann wird das Mädchen schwanger. Als sie neun Monate später in Schande aus dem Haus gejagt wird, sucht sie Schutz bei ihrer Familie. Und wird kurz darauf schwer krank.

Als sie von ihrem Bruder ins Krankenhaus gebracht wird, hat Workenesh höllische Schmerzen. Alle paar Minuten verkrampft sich ihr ganzer Körper, sie kann nichts mehr essen, kaum noch atmen. Die Diagnose: Tetanus. Es ist eine Diagnose, die einem Todesurteil gleich kommt. Im Krankenhaus rechnet niemand mit ihrem Überleben. Von dem Ungeborenen in ihrem Körper wird gar nicht erst gesprochen.

Und dann, Wochen später, passiert es: mitten in einem Krampfanfall bringt Workenesh einen Jungen zur Welt. Und dieser Junge lebt. Im Krankenzimmer herrscht angespanntes Schweigen, die Großmutter wendet sich verzweifelt ab, der Bruder verlässt den Raum. Wie alle Anwesenden wissen auch sie: „Ein Kind überlebt in Äthiopien nur, wenn seine Mutter überlebt.“

Um dieses Foto hat mich die Grossmutter gebeten und voller Stolz mit ihrem Enkel posiert. (Foto von P. Hedemann)
Um dieses Foto hat mich die Grossmutter gebeten und voller Stolz mit ihrem Enkel posiert. (Foto von P. Hedemann)

Doch weder Schwester Rita noch ich wollen aufgeben. Wir wechseln uns ab, gehen viele Mal am Tag in das Zimmer, nehmen das Kind vom Boden hoch, legen es der Mutter an die Brust und warten geduldig, bis es anfängt zu trinken. Nach wie vor leidet Workenesh an den Krämpfen, ist stark abgedämpft durch Medikamente. Ihre Familie reagiert mit Protest, will das Mädchen nicht weiter belasten. Es fällt mir schwer mich durchzusetzen, mein Handeln kommt mir hart, manchmal unbarmherzig vor. Als ich eines Morgens ins Zimmer komme und die Großmutter den Jungen im Arm wiegt und ihm leise ein Lied vorsingt, weiß ich, dass es sich gelohnt hat.

Vor sechs Wochen ist sie zu uns gekommen, mit einer Diagnose, die einem Todesurteil gleich kommt. Gestern haben ihr Bruder und ihre Mutter Workenesh und ihren Sohn nach Hause geholt. Gesund.

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Julia Cordes ist Medizinstudentin im 10. Semester und arbeitet für drei Monate im Attat-Hospital im Gurageland, Äthiopien.

5 Kommentare Schreibe einen Kommentar

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    Ich selber hatte eine Tetanus Erkrankung und habe um mein Überleben gekämpft.
    Trotz ausreichend guter medizinischer Behandlung welche in Deutschland üblich ist standen meine Chancen des Überlebens sehr schlecht.
    Umso beeindruckender ist diese Geschichte

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    Ich lebte zwei Jahre in Addis Aebeba und erfuhr immer wieder von der oft brutalen Benachteiligung der Frauen, v.a. als Dienstmädchen. Die Geschichte Workaneshs zeigt, wie wichtig Hilfe dort ist, wo starre Tradition und fehelnde medizinische Hilfe zum Risko für Menschen werden können.

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    Ich freue mich für jeden gesunden und glücklichen Menschen. Je größer die überwundenen Schwierigkeiten, desto größer die Erleichterung bei glimpflichem Ausgang.
    Hierbei von einem „Wunder“ zu reden halte ich für irreführend, zumal es in der Überschrift stark hervorgehoben wurde.
    Ein hilfreicher Anfang wäre die Aufklärung im medizinischen Bereich, statt Verklärung in spirituell/religiös/klerikalen Werten der Menschen. Mit Wissenschaft und Ethik ist es möglich vielen Menschen langfristig zu helfen, ohne Sendungsbewusstsein und Hintergedanken.

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    Wahnsinn, dort unten und hier, das sind zwei verschiedene Welten; bei solchen Schicksalen kommen einem wirklich die Tränen. Alles Gute und weiterhin eine aufregende Zeit und gutes Gelingen!

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    Mein Gott, wenn ich das lese, dann kommen mir wirklich die Tränen … Das muss ein tolles Gefühl sein, bei einem für alle Beteiligten so einschneidenden Moment dabei gewesen zu sein!

    Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute und viele Erfolgserlebnisse bei Ihrer Arbeit.

    Viele Grüße aus der Mozartstraße!

    Uta

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