In den Dörfern rund um Jaipur im indischen Bundesstaat Rajasthan haben die Männer das Sagen und Frauen keinerlei Entscheidungsfreiheit. Zwangsheirat, Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung gehören noch immer zum Alltag vieler Mädchen und Frauen auf dem Subkontinent. Ein Dorn im Auge von Carolin Reiber, die sich seit vielen Jahren für die Gleichberechtigung von Frauen einsetzt. Die beliebte Fernsehmoderatorin hat MISEREOR nach Indien begleitet.
Die Überraschung ist den Frauen gelungen an diesem Morgen. Als Carolin Reiber das längliche Geschenk auseinanderrollt, hält sie ein Portrait in den Händen, das die Frauen nach einem Bild aus dem Internet von ihr angefertigt haben. Die Freude auf beiden Seiten ist groß und die Frauen wollen gar nicht mehr aufhören zu singen und zu tanzen. Die deutsche Fernsehmoderatorin ist zu Besuch in Shilki Dungari, 40 Kilometer südlich von Rajasthans Bundesstadt Jaipur. Nach der bunten Begrüßung in ein Seidentuch gehüllt und mit dem traditionellen Segenszeichen „Bindi“ auf der Stirn will Carolin Reiber heute mehr über das Leben der Frauen von Rajasthan erfahren.
Zum Beispiel über das von Sunita Rajawat. Die 33-Jährige lebt im Dorf Vanasthali. Bis vor vier Jahren hat sie ihr Haus – wie die meisten Frauen in den traditionellen Gemeinschaften von Rajasthan – so gut wie nie verlassen. Von der lokalen Frauen-Selbsthilfegruppe unterstützt, stellte sie sich 2010 den Wahlen für das Panchayat, die dörfliche Selbstverwaltung in Indien und konnte sich gegen zwei Mitbewerber durchsetzen. Nach einer politischen Ausbildung durch die lokale Organisation CECOEDECON setzt sie sich seitdem für die Belange von Frauen ein, aber auch dafür, dass sich die Lebenssituation in ihrem Dorf verbessert. Vor Kurzem wurde eine Pumpe im Dorf angeschafft, um das drängende Problem der Wasserversorgung zu lösen. Aber auch mit dem Verhältnis von Männern und Frauen beschäftigt sie sich häufig. „Manchmal kommen die Männer betrunken zu mir und beklagen sich über ihre Frauen. Dann sage ich ihnen: Komm wieder, wenn du nüchtern bist“, berichtet Sunita Rajawat. Sofort erhält sie lautstarken Beifall von den anderen Frauen, die ebenfalls unterstützt werden. Carolin Reiber nickt anerkennend. „Zu erleben, wie selbstbewusst und lebensfroh diese Frauen sind, ist etwas ganz Besonderes, vor allem wenn man bedenkt, wie ausgeliefert die Frauen hier auf dem Land sind. Diese Frauen von CECOEDECON setzten sich dagegen zu Wehr.“
Gesellschaftliche Strukturen verändern
Seit 1986 hilft die indische Organisation den Frauen, die Verbesserung ihrer Lebensumstände gemeinsam selbst in die Hand zu nehmen. Dabei werden sie von MISEREOR mit Spendenmitteln aus Deutschland unterstützt. Die Erfolge sind gewaltig. Schritt für Schritt verbessern die Frauen die Einkommenssituation ihrer Familien durch angepasste Landwirtschaft oder den Verkauf von neuen Produkten. Das Geld wird für die Ausbildung der Kinder eingesetzt. Eine Kooperative betreibt unter der eigenständigen Leitung der Frauen ein Banksystem, das über 10.000 Frauen Kredite zu niedrigen Zinsen gewährt. Die zu Panchaya gewählten Frauen treffen Entscheidungen über Finanzen, Straßenbau, Schulen, fordern aber auch die Rechte von Frauen in der indischen Gesellschaft ein. „Frauen spielen die zentrale Rolle, wenn es darum geht, gesellschaftliche Strukturen zu verändern“, weiß Carolin Reiber von ihren zahlreichen Projektbesuchen in Afrika, Asien und Lateinamerika. „Das Entscheidende für die Zukunft ist dabei immer die Ausbildung der Kinder.“ Eine weiteres Thema, mit dem sich die Moderatorin seit vielen Jahren beschäftigt.
„Jeden Tag wird diesen Kindern ein Stück ihrer Kindheit gestohlen. Das macht zornig, aber fordert auch heraus, sich einzusetzen.“
Carolin Reiber
Zwei Euro für zwölf Stunden Arbeit
Szenenwechsel: Firozabad, Bundestaat Uttar Pradesh, 40 Kilometer östlich von Agra. Wenn Pounam um neun Uhr morgens in die Schule geht, hat sie schon zwei Stunden gearbeitet. Weil sie aber überhaupt die Schule besuchen kann, geht es ihr schon besser als den meisten anderen Kindern in Indiens Glasstadt Firozabad. Über 30.000 Kinder arbeiten hier in der Glasindustrie, vor allem in der Produktion von Glasarmbändern. Während die Eltern zumeist in den Fabriken beschäftigt sind, arbeiten die Kinder zu Hause – bis zu zwölf Stunden am Tag.
Wie die Kinder in der Nachbarschaft hockte auch Pounam jeden Tag im Schneidersitz vor einer Kerosinflamme und stellte gläserne Armreifen her. Die Zwölfjährige und ihre Geschwister müssen arbeiten, weil ihre Familie so arm ist, dass sie sonst nicht überleben könnten. Zwölf Stunden lang atmete Pounam die giftigen Dämpfe ein, die bei der Herstellung der Glasarmreifen über dem Bunsenbrenner entstehen. Atembeschwerden und Hautkrankheiten sind die häufigsten Folgen. Seit einiger Zeit hat Pounam entzündete Augen und bräuchte wohl eine Brille. „Es ist ein Skandal, dass Familien in Indien gezwungen sind, ihre Kinder arbeiten zu lassen. Offiziell ist in Indien die Kinderarbeit verboten, aber noch immer profitieren Firmen von den besonders niedrigen Löhnen, für die Kinder unter schlechtesten Bedingungen arbeiten müssen. Und das nur wenige Kilometer entfernt vom Tourismusmagnet Taj Mahal“, erklärt Carolin Reiber. An Holi, dem hinduistischen Fest der Farben, ist die Moderatorin nach Firozabad gekommen. Im Slum Narain Nagar trifft sie Pounam, ihren neunjährigen Bruder und ihren Schulkameraden Yogish in der kleinen Hütte der Eltern, um sich selbst ein Bild von den Lebensumständen der Kinderarbeiter zu machen. „Der Dampf aus Kerosin und Glas sticht in den Augen, sobald man den kleinen Raum betritt, die Hitze ist fast unerträglich“, berichtet Carolin Reiber von ihrem Besuch bei den Kinderarbeitern. „Wenn man sich vorstellt, dass eine ganze Familie etwa 6.000 Glasarmreifen am Tag produziert und damit etwa zwei Euro am Tag verdient, wird einem das Ausmaß der Armut bewusst und man will etwas dagegen tun.“
Chance auf eine bessere Zukunft
Den giftigen Dämpfen sind Pounam und Yogish zum Glück nicht mehr den ganzen Tag ausgesetzt. Ein Sozialarbeiter der Organisation Vikas Sansthan hat ihre Eltern überzeugt, sie vier Stunden am Tag zur Schule zu schicken. Pounam darf nach der Schule noch eine Ausbildung zur Schneiderin machen. Seit 1994 engagiert sich Vikas Sansthan mit Unterstützung von MISEREOR gegen Kinderarbeit. Die Organisation unterhält informelle Schulen, in denen die Kinder schreiben und lesen lernen, um später eine staatliche Schule besuchen zu können. Für ältere Kinder und ihre Eltern wird eine Ausbildung angeboten, die Eltern erhalten Kredite zu niedrigen Zinsen, um sich selbständig machen zu können. Carolin Reiber sieht darin die einzige Chance auf ein bessere Zukunft: „Ich glaube, man kann nur wirklich ermessen, was eine Ausbildung für diese Kinder bedeutet, wenn man sich klar macht, dass diesen Kindern jeden Tag ein Stück ihrer Kindheit gestohlen wird. Das macht zornig, aber fordert auch heraus, sich einzusetzen.“
Ursula Dornberger arbeitet als freie Fotografin unter anderem für die Deutsche Presse-Agentur.
Republik Indien
… Indien ist mit fast 3,3 Millionen Quadratkilometer etwa neunmal so groß wie Deutschland. Der Vielvölkerstaat mit der Hauptstadt Neu Delhi grenzt an Bangladesch, Butan, Burma, China, Nepal und Pakistan. Nach China ist Indien mit circa 1,24 Milliarden Menschen
das bevölkerungsreichste Land der Erde.
… Etwa zwei Drittel der Menschen lebt in der weltgrößten Demokratie von weniger als zwei US-Dollar am Tag, gut 40 Prozent der Kinder sind untergewichtig. Der Welthunger-Index bewertet die Lage in Indien 2013 als „sehr ernst“.
… Die bittere Armut zwingt viele Familien dazu, ihre Kinder zur Arbeit statt in die Schule zu schicken. Etwa 30 Millionen Jungen und Mädchen tragen mit oft gefährlicher und gesundheitsschädigender Plackerei zum Überleben ihrer Familien bei.
… Die indische Gesellschaft benachteiligt Frauen und Mädchen, obwohl diese laut Verfassung gleichgestellt sind. Die UN platziert Indien 2013 auf Rang 137 von 187 im Index der Geschlechterungleichheit.
Täglich werden Inderinnen Opfer häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe. Die Gewalt reicht bis hin zu Mitgift-Morden.
…Derzeit unterstützt MISEREOR in Indien 300 laufende Projekte mit insgesamt knapp 55,4 Millionen Euro.