Sie war drei Jahre, als der Tsunami ihre Zwillingsschwester in den Tod riss. Der Vater begann zu trinken und erhängte sich. Ihr Bruder starb ein Jahr später an einer Infektion. Ihre Mutter leidet seitdem unter Depressionen und Herzproblemen. Im Mädchenheim von Nagapattinam ist Girija (13) glücklich. Sie hat große Pläne für ihre Zukunft.
Girija strahlt. Das neue Kleid steht der 13-Jährigen ausgezeichnet: Über dem hellen Türkis ihres Salwar Kamiz, des typisch indischen Zweiteilers aus langem Hemd und Pluderhose, leuchtet eine bunte Blumengirlande. Die Goldbordüre funkelt. Ihr pechschwarzes Haar glänzt. Wahrscheinlich hat sie es heute besonders lange gekämmt, denn Diwali, das hinduistische Lichterfest zu Ehren der Göttin Shiva und ihres Sieges über das Böse, wird in Nagapattinam genauso groß gefeiert wie in ganz Indien. Selbst die katholischen DMI-Schwestern, (Daughters of Mary Immaculate; Töchter der Maria Immaculata) haben in ihrem Mädchenheim ein fürstliches Mahl mit Curry, Hühnchen und Fisch aufgetischt. Girija hat davon allerdings nichts gegessen. Sie war zu Hause bei ihrer Mutter unddie hat ihre Goldkette verpfändet, um der Tochter ein neues Kleid kaufen zu können. Um die 2.600 Rupien, rund 34 Euro, wieder anzusparen, muss die 40-jährige Witwe monatelang Fisch verkaufen. Von ihrem kargen Einkommen kann sich die herzkranke und an Depressionen leidende Mrs. Kavitha kaum selbst ernähren.
„Ich bin froh, wieder im Heim zu sein“, sagt Girija in einem stillen Moment. „Zu Hause sehe ich die ganze Zeit das Elend meiner Mutter. Das macht mich nur traurig. Hier aber habe ich Spaß mit meinen Freundinnen. Wir tanzen und singen und lernen. Die Schwestern haben mir so viel beigebracht! Ich spreche Englisch, bin selbstbewusst geworden und kenne mich in Geschlechterfragen aus. Mir geht es hier einfach viel besser.“ Prompt flitzt sie zu Arthi, Joncy und all den anderen. Die Teenager reden und giggeln, sie spielen Fangen und tanzen zur Feier des Tages in ihren schönsten Kleidern vor dem Eingang des Schlaftrakts.
Mrs. Kavitha blickt ihrer Tochter hinterher. Ihre Mundwinkel zucken, die Augen blinzeln. Dann räuspert sie sich kräftig und sagt: „Meine Tochter ist hier sehr glücklich. Dafür danke ich den Schwestern von Herzen.“ Dann berichtet sie von dem Tag, der ihr Leben in einen Trümmerhaufen verwandelt hat. Bei den Erinnerungen an den 26. Dezember 2004 überschlagen sich ihre Worte. Ihre Hände wirbeln durch die Luft, während die Worte aus ihrem Mund heraussprudeln: „Es war ein Sonntag, ich stand vor unserem Haus, da kamen ein paar Jungen angerannt und schrien: ‚Das Boot! Das Boot!‘ Ich drehte mich um und da kam diese Welle und schmiss ein riesiges Fischerboot auf mich zu. Ich schnappte meine Mädchen und rannte los. Ein Mann nahm mir Vanaja ab, Girijas Zwillingsschwester, und setzte sie auf ein Dach, um einer Frau zu helfen. Ich fiel hin, stieß mir den Kopf. Girija klammerte sich an meinen Hals. Vanaja brüllte ‚Mami‘ und fiel vom Dach. Dann wurde ich bewusstlos.“
„Geh weg und stirb“
Mrs. Kavitha und Girija hatten Glück. Sie überlebten und kamen ins Krankenhaus. Vanaja wurde einen Tag später zu ihnen in die Notaufnahme gebracht. Sie hatte so viel Schlamm und Wasser in der Lunge, dass sie nach drei Tagen starb. Mrs. Kavithas Ehemann hatte am Morgen des Tsunami mit den älteren beiden Kindern Verwandte besucht. Als er von der Katastrophe erfuhr, gab er eine Todesanzeige für seine Frau und die Zwillinge auf. „Als ich mit Girija zu ihm in die Notunterkunft kam, war er total geschockt“, erzählt Mrs. Kavitha. „Er schlug mich und schrie: ‚Geh weg und stirb!‘ Er wollte nur das Entschädigungsgeld versaufen.“ Ein paar Wochen später erhängte er sich. In der Notunterkunft lernte Mrs. Kavitha die DMI-Schwestern kennen, erhielt psychologische Beratung und Medikamente und schickte Girija und ihre sieben Jahre ältere Schwester ins neu gegründete Mädchenheim. Ihr Sohn starb ein knappes Jahr später an einer schweren Infektion.
Es ist 18 Uhr und stockduster. Mrs. Kavitha macht sich auf den Heimweg. Die Schwestern verteilen Feuerwerkskörper und Wunderkerzen an die 45 Mädchen im Heim. Die zündeln unter großem Gekreische.
Girija hält sich zurück. Sie ist so etwas wie eine Mannschaftsführerin. Die Schwestern haben sie ins Amt gehoben. „Girija hat große Führungsqualitäten“, sagt Schwester Shiny, die für das Heim verantwortlich ist. „Girija ist eine hervorragende Schülerin“, sagt Oberschwester Vasanthi. „Sie ist wirklich fantastisch.“ Am Abend nach den Chemiehausaufgaben verrät die Achtklässlerin ihren Berufswunsch: „Ich will Bürgermeisterin werden. Dann würde ich den Menschen helfen, vor allem den Kindern und den Armen. Ich würde Alphabetisierungskurse durchführen und allen Kindern die Schule ermöglichen. Kinder müssen lernen, sie müssen eigene Ideen entwickeln, wie ich. Ich will etwas aus meinem Leben machen.“ Ob sie es bis zur Bürgermeisterin schafft, wird sich zeigen. Auf jeden Fall werden ihr die Schwestern den Schulabschluss und ein Studium ermöglichen – und das sind die besten Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben.
Ein Portrait von Constanze Bandowski
Fotos von Karin Desmarowitz