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Stachel im Fleisch bis heute

„Mit dem jetzigen Papst sind die Armen im Vatikan angekommen.“ Auf diese Weise bringt Monsignore Pirmin Spiegel auf den Punkt, was er zuvor während des Katholikentages in Regensburg zum heutigen Stellenwert der Befreiungstheologie ausgeführt hat.

Foto 1Der Amtsantritt von Jorge Mario Bergoglio im Vatikan  markiere auch einen beginnenden Paradigmenwechsel innerhalb der gesamten katholischen Kirche, sagt der Hauptgeschäftsführer von MISEREOR. Das von der Befreiungstheologie geprägte Denken spiele unter Führung des Argentiniers eine wichtige Rolle, es sei bis heute Stachel im Fleisch der Weltgesellschaft und der Kirche geblieben. Dabei gehe es um die Impulse, die aus den Theologien der Befreiung folgten.

Gott ist kein Buchhalter-Gott

Spiegel  erläutert vor etwa 500 Zuhörern in der Regensburger Universität, Papst Franziskus vermittele eine Vorstellung von Gott, der den Menschen sehr zugänglich und für sie ansprechbar ist, ihre Nöte hört. „Er ist kein Buchhalter-Gott, sondern ein Gott, der mit seinem Volk durch die Geschichte mitgeht, seine Schwächen akzeptiert und zur Umkehr aufruft.“ Deshalb dürfe zum Beispiel die Beichte in den Augen des Papstes keine Tortur sein, der Beichtstuhl keine Folterkammer, „sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn, der uns anregt, das mögliche Gute zu tun“, zitiert Spiegel  aus dem ersten Apostolischen Schreiben von Franziskus „Evangelii Gaudium“.  Der MISEREOR-Chef unterstreicht: „Das ist der Ansatz der Befreiungstheologie: bei den Fähigkeiten ansetzen, nicht bei den Schwächen. Der Glaube an Gott soll das Leben stärken, den aufrechten Gang.“

Eine Kirche der Armen

Mit Bergoglio, so Spiegel, habe lateinamerikanisch geprägte Volksfrömmigkeit, Kirche und Theologie in  Rom Einzug gehalten. Er stehe für eine kontinentale Kirche, deren Vertreter schon während des Zweiten Vatikanischen Konzils eine „Kirche der Armen“ hätten entfalten wollen und in diesem Sinne bereits an die sozialen Ränder ihrer jeweiligen Gesellschaften gegangen waren. Im sogenannten Katakombenpakt hatten etwa 40 Bischöfe im November 1965 für sich beschlossen, selbst einen einfachen Lebensstil zu pflegen und sich zugunsten der Armen in ihren Diözesen einzusetzen. Dies war die Initialzündung für eine sich stetig weiter entwickelnde Grundhaltung, die Bergoglio als Bischof ebenfalls mitbeeinflusst hat. 2007 fand die bisher letzte Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Aparecida  (Brasilien) statt. Bergoglio war damals als Leiter der Redaktionskommission des Schlussdokuments mit dafür verantwortlich, dass die Methode „Sehen – Urteilen – Handeln“ wieder aufgenommen, der Klerikalismus als eine Ursache der kirchlichen Probleme in Lateinamerika benannt wurde, eine bestimmte Art von Wirtschaft für Armut und Umweltzerstörung (mit)verantwortlich gemacht wird, die Basisgemeinden wieder als eine Form des Kircheseins anerkannt werden. Spiegel: „Diese Gedanken, die heute einige Aufmerksamkeit erregen, waren in der lateinamerikanischen Kirche schon lange verwurzelt, und Kardinal Bergoglio war einer ihrer Protagonisten in Aparecida, ehe sie mit ihm auf dem Stuhl Petri ankamen. Herausgehen an die sogenannten Ränder der Gesellschaft – das ist der Standortwechsel, der die andere, befreiende Theologie erst ermöglicht.“

Es geht um die Nöte der Menschen

Foto 2Franziskus gehe es um die Nöte der Menschen in den verschiedensten Lebenssituationen: der Anruf bei der geschiedenen Frau, die Umarmung von Kranken, das Aufsuchen von Gefangenen, der Besuch bei den Mittelmeer-Flüchtlingen in Lampedusa seien dabei nur einige Beispiele. „Das ist sein Ausgangspunkt für die Verkündigung des Evangeliums: das konkrete Leben der Menschen. Das reale Leben kommt vor. Mit all seinen Brüchen.“ In der Option für die Armen, so Spiegel, werde der neue gesellschaftliche Standort an der Seite der Armgemachten, der Ausgegrenzten, die verschiedene  Gesichter und viele Fähigkeiten mitbringen, deutlich. „Der Papst setzt einen sozialen Impuls in unserer Kirche, indem er mit der Option für die Armen ernst macht. Er sucht die Nähe zu den Menschen, die es schwer haben, sei es wirtschaftlich, kulturell, gesundheitlich, psychisch. Ziel des pastoralen Engagements mit den Armen ist es, dass die Menschen ihre Rechte wahrnehmen können und ein neues Lebensprojekt entwickeln, über das sie selbst bestimmen – und in dem sie auf diese Weise das Evangelium verwirklichen.“

„Solidarität ist kein Schimpfwort!“

Der Papst spreche die offenen Wunden unseres globalen Systems an und sage ein vierfaches prophetisches Nein: zu einer Wirtschaft, die ausschließt und eine zunehmend asymmetrische Güterverteilung verursacht. Nein zu einer Hegemonie der Kapitalmärkte. Nein zu Finanzgeschäften, die sich von der Realwirtschaft abgelöst haben. Nein zu einer gesellschaftlichen Polarisierung, die Gewalt erzeugt. Spiegel kritisiert massiv die ungleiche Verteilung des weltweiten Vermögens: „Die 85 reichsten Menschen besitzen ebenso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, 3,5 Milliarden Menschen, zusammen.“ Für den Papst wie für viele Befreiungstheologen bedeute Glaube, eine alternative Kultur zu entwickeln, in denen „Solidarität kein Schimpfwort“, sondern gelebte Praxis ist.

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Ralph Allgaier arbeitet als Pressesprecher bei Misereor.

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